Das Gewicht der Zeitungen

Eine Geschichte aus dem Herbst 1977

VON PETER KURZECK

Immer in Deutschland wird alles anders, weil das Wetter sich ändert. Am hellen Mittag, mitten ins Schreiben hinein, mein Freund Jürgen mit vielen Zeitungen. Die zweite Woche nach der Schleyer-Entführung. Ein Werktag, eben erst zwölf vorbei. Der Himmel bedeckt. Er hat sich beeilt. Jetzt mit den Zeitungen mit großen Schritten im Zimmer herum und sagt: Ich halt das nicht lang mehr aus! Ja, ja, sagte ich, laß mich nur diese eine Seite, laß mich hier den Absatz zu Ende! Willst du einen Apfel? Wo sind denn nur meine Schuhe? Du weißt ja, das soll endgültig meine Reinschrift jetzt! Also die letzte! Die letzte Reinschrift von meinem ersten Buch! Wollen wir Kaffee trinken? Türkischen Mokka? Er ging in die Küche. Er kam auch sonst oft in meine Arbeit hinein, aber immer bereit, sich in eine Ecke zu setzen und geduldig das Ende der Zeit abzuwarten. Noch den einen Absatz zu Ende! Auf dem Tonband die Rolling Stones. Schon fängt es an, nach Kaffee zu riechen. Er liest im Gehen. Er kann sie kaum bändigen, die Zeitungen in seinen Händen. Hin und her. Erst durchs Zimmer, dann mit den Zeitungen durch den Flur in die Küche. Die Markise bläht sich. Es zieht, in meinem Gedächtnis fällt eine Tür zu. Auf dem Tisch, auf dem Stuhl, auf dem Fußboden: überall Zeitungen, und der Wind füllt die Seiten. Jetzt endlich mit dem Absatz gleich fertig. Noch heiß der Kaffee (wie in Istanbul), und warum nicht ein bißchen Rum dazu. Mit Vorsicht, in kleinsten Schlückchen. Sowieso bloß ein Rest. Dann Schuhe an und ins Hesseneck zu dem Griechen, die Basaltstraße hinauf zur Lina oder in welcher Kneipe Wein und Kaffee und Schnaps, bis daß uns der Abend herabsinkt? Nacheinander drei oder vier ruhige Mittagskneipen. Dazwischen ging er noch mehr Zeitungen kaufen, und ich versuchte die Zeit im Auge zu behalten (wir hatten beide keine Uhr). Auf einmal keine Zigaretten mehr und bald auch schon Zeit für den Lärm und Wirbel der ersten Abendausgaben. Und daran denken, daß Sibylle bald heimkommt jetzt! Wo sind wir hier? Und wo ist der Tag uns hin? Die Zeit und die Zeitungen, das blöde Volk und der niederträchtige Staat. Genug, sagt er, am liebsten ein anderes Land. Eine griechische Kneipe mit Wandmalereien in der Florastraße. Sich wiederfinden. Wie spät? Die Tür offen, ein schwerer Himmel. Mir tut der Kopf weh. Es ist windig und kühl. Der Tag wie erstarrt. Wir trinken Retsina. Nicht nur vor der Tür der Rinnstein, der ganze Gehsteig mit Abfall bedeckt. Wir trinken, wir sind die einzigen Gäste. Gleich viele Länder fallen uns ein. Nach all den Gefängnissen, Jahre und Jahre, nachdem ihn der Staat von früh auf beharrlich verfolgt hat: zuletzt dreizehn Monate U-Haft, Einzelhaft, eine offene Rechnung, und seither ermitteln sie noch. Sie hören nicht auf zu ermitteln. Ob du kommst oder gehst, sagt er und zwei Männer mit Hüten und Aktentaschen von draußen herein und packten gleich Brillen und Zeitungen aus. Kreuzworträtsel. So schief und grell die Schafe und Landschaften da an der Wand! Wer mag sie da aufgemalt haben? Die Schafe mit beinah wie Menschengesichtern und Windmühlen auch. Und wie alles dich von der Wand herab anbrüllt, ein grelles Gefuchtel! Der Fiebertraum eines taubstummen Hirten, der haltlos im Gehen schläft, ungewollt, in unwegsamem Gelände und scheint's auch noch farbenblind! Ölfarben! Aber wer hat die Bilder gemalt? Der Wirt selbst in einem fürchterlichen Delirium (mit Stehleiter) oder ein guter Freund von ihm, ein Verwandter? Wir kamen darauf, daß wir schon einmal hier waren. Klar, sagte ich, wir schaffen das schon! Dann in das Eiscafé in der Friesengasse. Gleich zwei Poliere mit weißen Unfallschutzhelmen und gelben Asbesthandschuhen von draußen herein. Kugelschreiber und Lottozettel. Oder in Wahrheit entlaufene städtische Müllarbeiter, dem Ewigkeitsmüll und der täglichen blauen Frühe entlaufen, in orangeroten Overalls? In der vorigen Kneipe die Wandmalereien. Als seien mit dem schlafenden Hirten, den Schafen, Windmühlen und Horizonten die Wände selbst ins Torkeln geraten! Und die zwo Männer mit Hüten und Aktentaschen in ihren Kreuzworträtseln drin und nicht einen einzigen Blick für die Wände. Dann eine billige Stehpizzeria mit Barhockern in der Adalbertstraße und noch mehr Wein und Espresso. Palmen, Capri, der Vesuv, der Golf von Neapel mit Reißzwecken an der Wand und alles wie in einer Stehpizzeria mit Barhockern in New York. Die Musik auch wie in einer Stehpizzeria in New York. Frank Sinatra. Erst Frank Sinatra, dann Ella Fitzgerald. Warum ist der Wein so billig? Rotwein, Chianti, das Glas für einszehn. Große Gläser. Und wer ist das, an den uns der Wirt hier, der Pizzabäcker jetzt schon seit zehn Minuten mit jeder Bewegung so deutlich erinnert? Zwei amtliche Gasuhrableser mit amtlichen Kontrolleursgesichtern, Aktentaschen und Dienstmützen von draußen herein. Haben Formulare zum Ausfüllen mit. Für die täglichen Arbeitsstunden und für die Überstunden. Autos hupten. Sirenen. Ein Martinshorn. Polizei, Feuerwehr, Krankenwagen. Überall Baustellen. Straßenbahnen direkt vor der Tür vorbei. Himmelhoch dröhnend und klimpernd der Abend die Straße entlang. Hör zu, sagte ich, laß uns jetzt Sibylle abholen und mit ihr das Auto finden. Wenn sie nicht dabei, weiß du ja, gleich verfahre ich mich, das Lenkradschloß klemmt, ich schlafe am Steuer ein. Meistens nur Blechschäden. Sollten noch rechtzeitig Wein kaufen! Mit vielen Lichtern der Abend. Wein und vielleicht auch ein Brot. Dann mit dir in die Hansa-Allee oder wo du hinwillst, wir bringen dich hin. Du rufst an, und spät am Abend dann sehen wir uns. Vergiß nicht, wir können jederzeit alles! Vergiß das bloß nicht! Aber wohin? Er betrieb seine Emigrationsvorbereitungen und kam mehrmals täglich, um mir davon zu berichten. Zwischendurch rief er an. Von wo rufst du an? Ich bin sein Zeuge, seine Hoffnung, sein guter Stern. Sooft er kam, alle paar Stunden, Berge von Zeitungen, die mir schwer auf der Seele zu liegen kamen. Allein schon ihr Preis, wenn ich daran dachte (gleich fängst du zu rechnen an, erst addieren, dann umrechnen: in Wein, Zigaretten, Brot, Mahlzeiten, Bücher, Schuhsohlen, Wärme, Leben und Zeit!), und erst recht dann der Inhalt, so ein Geschrei! Sie färben ab, und sie riechen schlecht. Und wieviel Platz sie doch brauchen, auch noch in meinem Gedächtnis. Wohin damit? Dazu erstens die Tage und Fluchthelfer, zwotens zahlreiche Fluchtadressen, und er hat eigens dafür ein neues Notizbuch, Leder mit Goldschnitt und am Rand ein Register. Wie ein teures Geburtstagsgeschenk, eher noch wie glatt geklaut. Du mußt die Adressen erst aufschreiben, dann auswendig und dann das Notizbuch vor meinen Augen fressen, eilig und gründlich! Am besten die Zeitungen auch mit auffressen, solche Mengen. Oder ein Feuer anzünden, aber wo? Mit viel Rauch ein verdächtiges Feuer! Meistens kam er, und wir gleich in drei, vier Kneipen. Wie um uns selbst zu suchen oder den Tag. Die Tage jetzt deutlich schon kürzer. Er hatte Landkarten mit, Europa, Nordafrika, Naher Osten. Trotz Observierung geklaut. Hier in der Stadt weite Wege, die er jeden Tag geht, und bald Herbst. Mit den Landkarten zu Dionysos, so heißt hier ein Wirt, und wieder die Wahl haben zwischen Samos, Ouzo und Retsina. Wie in alten Zeiten vor einer großen Reise. Ich sah uns schon als eigensinnige alte Männer am Bahndamm bei einem Feuerchen. Jeder mit seinem Flachmann. Penner. Warum nicht nach Portugal, nach Marokko? Zwei Kuriere in Motorradanzügen von draußen herein. Mit Hartschalenkoffer, Dienstnummer, Helm und Visier. Für jede Fahrt einen Fahrauftrag. Für jeden Fahrauftrag drei Formulare. Wenn du erst im Nahen Osten bist, mußt du in den Fernen Osten, so geht es. Er hatte ein bißchen Geld, aber auch noch nicht lang. Es hätte sein Reisegeld sein sollen, und (von Kneipe zu Kneipe immer besser der Wein!) wir verbrauchten den größten Teil schon für die Vorbereitungen. Als ob wir hier noch den Sommer suchen, solche Tage sind das gewesen.