: Den Trieb der Pädophilen vergiften
Die meisten Kinderschänder werden nach ihrer Strafe rückfällig. In Siegen wird ein neues Therapiekonzept ausprobiert: Hier müssen verurteilte Täter ab sofort in eine sozialpädagogische Gruppentherapie, bis sie sich unter Kontrolle haben
SIEGEN taz ■ Sie haben in der Regel kein Schuldbewusstsein, glauben, dass es ihren Opfern irgendwie doch Spaß gemacht hat. „Deshalb sind pädophile Straftäter eigentlich immer Wiederholungstäter“, sagt Arnfried Bintig. Der Kölner Psychologieprofessor arbeitet seit Jahren mit und über Sexualstraftäter. Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen glaubt er jedoch, dass auch diese Täter therapiert werden können. „Sexuelle Orientierung ist tatsächlich unveränderlich“, sagt Bintig. „Man kann aber lernen, sie unter Kontrolle zu halten.“
Genau das sollen verurteilte Pädophile jetzt in Siegen üben. In acht NRW-Kommunen wurde das Therapie-Konzept von Bintig bereits getestet. „Bislang wurden viele Kindesmissbraucher bei uns sogar ohne Therapieauflage entlassen, weil es im Gerichtsbezirk zu wenig entsprechende Therapieplätze gibt“, sagt Susanne Kutschmann, Sprecherin des Siegener Landgerichts.
Ab sofort gibt es in Siegen eine sozialpädagogische Gruppe, die nach Bintigs Lehre vorgeht: Höchstens acht verurteilte pädophile Straftäter arbeiten in fünf Phasen an ihrem Sexualtrieb. „Endziel ist es, den Trieb zu vergiften“, sagt Bintig. „Und zwar so nachhaltig, dass auch Masturbationsfantasien nicht mehr genossen werden können, sondern kritisch hinterfragt werden.“
Um dahin zu kommen, müssen die Täter zunächst im Gruppengespräch ihre Taten rekonstruieren. „Die meisten sehen sich nämlich gar nicht als Missbraucher, sondern sind überzeugt davon, dass die Kinder sie durch aufreizendes Verhalten verführt hätten und sie mit dem sexuellen Akt auch die Bedürfnisse der Kinder befriedigen“, sagt Arnfried Bintig, der selbst seit fünf Jahren eine sozialpädagogische Gruppe in Köln leitet. „Erst wenn sie Schritt für Schritt ihre Tat offenlegen, fällt ihnen auf, dass ausschließlich sie aktiv sind.“
Nach dem Prinzip Entzauberung funktionieren auch die übrigen Phasen der Therapie. Wie ist es zum Mißbrauch gekommen? ist die zweite Frage, die in der Gruppe bearbeitet wird. Die Straftäter müssen mindestens 30 Entscheidungsschritte aufdecken, die sie zur Tatsituation geführt haben. „Aus dieser Rekonstruktion entwickelt sich dann langfristig ein Frühwarnsystem“, erklärt Bintig.
Zerstört werden müsse aber vor allem der Lolita-Mythos. „Eigentlich alle sind davon überzeugt, dass Kindern Sex mit Erwachsenen Spaß macht und sie ihn förmlich herausfordern“, sagt Bintig. „Diese Legenden zerstören wir in der Therapie.“ Den Pädophilen werden Filme über das Leiden ihrer Opfer gezeigt, immer und immer wieder. „Die Empathie mit den Opfern ist der wichtigste Schritt für einen Pädophilen, sie nicht mehr anzurühren“, sagt Bintig. Seine Patienten werden erst entlassen, wenn sie sich unter Kontrolle haben. „In der Regel dauert die Therapie zwei Jahre“, sagt er. „Es kann aber auch drei oder vier Jahre dauern, bis die Einsicht da ist.“ Erwiesenermaßen rückfällig ist von seinen 30 Patienten bislang einer. Die anderen acht Therapiegruppen in NRW haben ihm ähnliches zurückgemeldet. „Pädophile Straftäter können die Kinder so einwickeln, dass sie oft jahrelang über den Missbrauch schweigen“, sagt Bintig. „Diese Sozialkompetenz können sie auch im positiven Sinne nutzen: Nämlich dafür, sich selbst unter Kontrolle zu halten.“
Empirische Studien über Erfolg und Misserfolg von Sexualtherapien gibt es in Deutschland kaum, die Dunkelziffer Rückfälliger ist naturgemäß hoch. In Siegen erwartet man trotzdem einen Erfolg: „Wir sind überzeugt, dass so Folgetaten verhindert werden können“, sagt Susanne Kutschmann vom Siegener Gericht. MIRIAM BUNJES