Umsonst ist nur der Tod

Gabi vom Umsonstladen-Kollektiv dementiert

VON GABRIELE GOETTLE

Gabriele Grüttner-Gau, arbeitslos, aktive im Berliner Umsonstladen-Kollektiv. 1961 Einschulung i. d. Fritz-Reuter-Schule Neubrandenburg (allgemeinbildende Polytechn. Oberschule), 1971 Abschluss 10. Klasse in Binz. 1971–74 Ausbildung (Elektronikfacharbeiter mit Abitur) a. d. Betriebsschule d. Kombinats Halbleiterwerk Frankfurt (Oder). 1976 Geburt v. Sohn Andreas. Tätigkeit im Servicebereich d. Funkwerks Berlin-Köpenick. 1982 Studium d. Betriebswirtschaft/Ingenieurökonomie d. elektrotechn. Industrie a. d. Ingenieurschule f. Elektrotechnik u. Maschinenbau Eisleben, Abschluss Ingenieurökonom. Während d. Zeit d. Studiums Geburt v. Sohn Thilo (1983) u. Tochter Anna (1984). Ab 1988 Ökonomische Mitarbeiterin d. Kombinatsleitung (VEB-Kombinat-Nachrichtenelektronik, Berlin-Köpenick) im Bereich Export, Abt. Marktbearbeitung Nachrichtenelektronik. Nach d. Wende arbeitslos. 1990–1997 leitende Tätigkeit im Berliner Bestattungsunternehmen. Seit 1998 arbeitslos. 1995–1998 engagierte Mitarbeit i. d. „Berliner Hilfe f. Tschernobyl e.V.“ Im Jahr 2000 Krebserkrankung, mehrere Operationen 2000 und 2003, Krebs- und Psychotherapie, Reha-Maßnahmen, div. Nebentätigkeiten im Architektenbüro, Werbe- u. Computerfirma, Verlag, ABM usw. Seit 1/2004 Erwerbsunfähigkeitsrente (befristet). 2001–2002 Aufbau d. „NET-Selbsthilfegruppe e.V.“ (NeuroEndokrineTumore), ehrenamtl. Tätigkeit a. Vorstandsmitglied. Seit 2003 Aktive im Umsonstladen-Kollektiv. Gabriele Grüttner-Gau wurde 1955 in Neubrandenburg als Tochter eines NVA-Offiziers u. einer Lehrerin geboren, sie ist in 2. Ehe m. e. Metallbildhauer verheiratet u. hat 3 Kinder.

Der Berliner Umsonstladen wurde 2001 gegründet, die Idee dazu kam aus Hamburg, wo der „Arbeitskreis lokale Ökonomie“ bereits 1999 einen Umsonstladen gegründet hatte. Inzwischen gibt es in Deutschland zahlreiche Läden dieser Art. In Hamburg und Berlin verfolgte man von Beginn an ein politisches Konzept, antikapitalistische Gesellschaftskritik sollte aus der theoretischen Auseinandersetzung heraus auf praktische Füße gestellt werden. Man wollte eine Alternative schaffen zu Terror und Magie des Geldes, eine Alternative zur Konsumgesellschaft. Und man wollte gründlicher sein als die Tauschring-Aktivisten, die zwar Geld als solches, nicht aber Tauschwertbeziehungen in Frage stellen, wenn sie Dienstleistungen berechnen, verrechnen und den Nutzen kalkulieren. Gut, es ist vielleicht ein etwas frommer Wunsch, zuerst mit dem Geld den Tauschwert, mit dem Tauschwert die Ware, mit der Ware die kapitalistische Produktionsweise loswerden zu wollen, statt umgekehrt, aber wenn eine originelle Idee realisiert wird, inmitten der Einöde des Immergleichen, dann ist schon viel gewonnen. Die originelle Idee war: Gründung eines Ladens ohne Kunden, ohne Kasse, in dem man nichts einkaufen kann, eines Ladens ohne Lohn, ohne Preis, ohne Profit – und natürlich ohne Waren.

Stattdessen ein Laden voller Gebrauchsgegenstände, von denen jeder, der etwas braucht, gratis mitnehmen kann. Nach dem einfachen Prinzip: „Jedem nach seinen Bedürfnissen“. Lieferanten sind diejenigen, die ihren Computer oder anderes Gerät nicht mehr benötigen, die Bücher, Kinderspielzeug, Kleidung, Wäsche, Geschirr aussortieren, aber nicht wegwerfen wollen. Vorgabe für die Bringenden: Die Dinge müssen funktionsfähig und sauber sein und nur so schwer, dass eine Person allein sie transportieren kann (für Schwereres gibt’s ein schwarzes Brett). Vorgabe für die Holenden: Pro Besuch und Person können bis zu drei Dinge für den persönlichen Gebrauch mitgenommen werden. Wiederverkauf ist nicht im Sinne des Projekts und wird mit Hausverbot geahndet (so hofft man unter anderem Flohmarkthändler abzuschrecken).

In den drei Jahren seit Gründung des Ladens haben sich die gesellschaftlichen Verhältnisse deutlich verändert. Während sich die Besitzprobleme der Besserverdienenden in den Lebenshilferegalen der Buchläden widerspiegeln mit Titeln wie: „Weg damit“, „Wohnungsdiät“, „Magisches Entrümpeln in 14 Tagen“, „Ballast loslassen“, sind die arbeitslosen Massen durch Hartz IV und die Zwangsverpflichtung zu 1-Euro-Jobs der Abschaffung von Konsumdenken, Geld und Lohnarbeit schon einen Schritt näher gekommen.

Brunnenstraße, Berlin-Mitte. Hier, so scheint es, haben Immobilienhaie und Luxussanierung noch nicht so richtig zugepackt. Es gibt bröckelnde dunkle Fassaden,Trödler, türkische Imbissbuden, kleine Cafés und einen verlassen aussehenden Sexshop von Beate Uhse aus der Zeit, als mit den neuen Ostkunden noch gutes Geschäft zu machen war. Der Autoverkehr wälzt sich aus Richtung Hackescher Markt gen Wedding und umgekehrt. Die wenigen Fußgänger halten sich die Jacken zu gegen den kalten Wind und streben mit gesenktem Kopf zum U-Bahnhof Rosenthaler Platz. Am Haus Brunnenstraße 183 hebt sich türkisfarben und etwas schrill gestaltet der Umsonstladen von den übrigen öden Hausfassaden ab. Tür und Schaufenster sind mit Zetteln voll gehängt. Es ist Freitag, 11 Uhr, offizielle Öffnungszeit ist heute von 14.00–18.00, ansonsten Mo. u. Do. 16.00–20.00, Di. 11.00–14.00. Wir treten in den Laden ein. Er war ehemals Drogerie und nach langem Leerstand vorübergehend Kommune-Café. Der große Raum ist düster, die Wände aus freigelegtem Backstein sind geweißt, teils bemalt und mit großen Bildern behängt.

Gaby empfängt uns freundlich. Sie wirkt befremdlich distinguiert im szenehaften Ambiente. Während sie den Tee zubereitet, sehen wir uns ein wenig um. Ein Mitglied des Kollektivs hat den großen Kachelofen vorgeheizt, sagt sie, damit wir es etwas warm haben. In einem kleinen Raum im hinteren Teil des Ladens gibt es Wäsche, Schuhe und die Kleidung hängt auf einem Garderobenständer bereit, dazwischen ein gut erhaltener Lammfellmantel in 60er-Jahre-Qualität für Herren. Im vorderen Raum hängt von einer robusten hölzernen Empore herab ein rotes Tuch mit der Aufschrift: „Jeder Kauf ist ein Fehlkauf“.

Auf der Empore befinden sich fünf Computerplätze, es gibt die Möglichkeit, CDs zu brennen und kostenlos ins Internet zu gehen. Derzeit ist die Technik aber nicht nutzbar. Neben einer Sitzecke mit Couch, Sesseln und wachstuchbedecktem Tisch stehen die Bücherregale, gut gefüllt, liebevoll geordnet und beschriftet nach Sachgebieten. Von Lichtenberg bis hin zu 1.000 Steuertricks, Bachofens Mutterrecht, DDR Bastelbuch ist vieles da. Und auch eine kleine rote Spendenbüchse, ein Zugeständnis an die Notwendigkeit, Betriebskosten zu bezahlen (der Laden wird mietfrei genutzt). Auf der anderen Seite der Eingangstür ist die Kinderecke eingerichtet mit Spielen, Spielsachen, Bilder- und Schulbüchern sowie einem Berg von Kuscheltieren. Hier können die Kinder selbst wählen. Den übrigen Raum füllen stabile Regale, in denen ein Sammelsurium von Computer, Fußwärmer, Langlaufskier, Eierkocher, Lesebrille, Toaster, Schreibmaschine, Schirmständer, Aktenordner, Uhrenradio und vielem mehr beieinander steht, dazwischen mahnt ein handbeschriebenes Pappschild etwas anzüglich: „Brauchst du das wirklich, oder bist du gierig?“. In einer Ecke stehen Geschirr, Gläser, Vasen, Kochtöpfe und Besteck, ordentlich wie im Küchenschrank, alles bunt zusammengewürfelt und tadellos. Man spürt es deutlich beim Anschauen der ehemaligen Waren, ihr Tauschwert gibt immer noch deutliche Lebenszeichen. Und über all den ausgemusterten Dingen schwebt, wie aufgewirbelter Staub, die vergessene Arbeit der Unbekannten, die sie gemacht haben.

Wir setzen uns zum Gespräch, unser Hund nimmt ungerührt Platz auf einem schmutzstarrenden Teppich, und Gaby beginnt mit verhaltener Stimme zu erzählen:

„Ich bin seit einem Jahr dabei. Wir sind eine offene Gruppe von derzeit etwa 15 Personen, das Durchschnittsalter bei uns liegt so zwischen 20 und 30, in anderen Umsonstladen-Gruppen liegt es meist zwischen 40 und 50. Es gibt keine Hierarchie. Alles wird im monatlichen Plenum besprochen und abgestimmt – auch dass das heute hier stattfindet …“ Sie lächelt aufmunternd. „Unsere Philosophie ist euch ja schon bekannt. Also die ganzen politischen Fragen sind natürlich nach wie vor bei uns, den Aktiven, Thema, aber entscheidend sind natürlich die, die hierher kommen. Wir sagen dazu: die Nutzer. Die meisten von uns Aktiven sind ehemalige Nutzerinnen und Nutzer gewesen, ich auch. Ich weiß noch genau, wie ich auf dieses Schild „Brauchst du das wirklich, oder bis du gierig?“ reagiert habe. Es war so eine Art Schock für mich, ich fühlte mich ertappt.“ Sie lacht. „Ich hab alles zurückgestellt – Tassen und eine Kanne. Ich habe ja zu Hause Tassen und Kannen, aber diese sind mir irgendwie schöner erschienen. So und natürlich über die Gespräche bin ich dann dazugekommen. Und nun versuche ich das Konzept den Nutzern näher zu bringen, was oft nicht ganz leicht ist. Es gibt natürlich viele Missverständnisse. Also, wir sind kein Tauschring, kein ökologisch orientiertes Recycling-Dienstleistungsunternehmen, wir sind auch keine karitative Einrichtung, die Bedürftige versorgt. Wir werden krachsauer, wenn das Sozialamt einem Sozialhilfeempfänger was ablehnt und ihm dann rät, in den Umsonstladen zu gehen und es sich dort zu holen. Das ist nicht das, was wir wollen. Wir machen nichts für den Staat. Und wir sind auch keine ehrenamtlichen Helfer. Wir leisten Widerstand gegen die Geldmacht, und hier drin, in diesem Laden, wird sie entmachtet sozusagen. Das ist hier unser Anliegen.

Und das wird eben manchmal nicht ganz verstanden. Was auch häufig vorkommt, ist, dass dieser Laden missverstanden wird als günstige Bezugsquelle. Leute kommen jeden Freitag und nehmen ein elektrisches Gerät mit. Alles, was einen Stecker hat. Und da weiß man dann – denn jede Woche braucht man keinen Computer oder einen Toaster –, dass diese Leute die Sachen verkaufen. Und dann gehen wir auf sie zu, sprechen sie direkt darauf an. Also, mir persönlich fällt diese Rolle nicht leicht: zu sagen ‚Stopp! Diese Sache stell bitte zurück, die bleibt hier, weil ich denke, du hast schon genug davon mitgenommen, du brauchst sie nicht, ein anderer aber schon.‘ Da entstehen natürlich oft Situationen, dass man angegriffen wird, verbal. Soweit es möglich ist, wird diskutiert, mitunter haben wir Erfolg, mitunter nicht. Ein anderes Missverständnis ist, dass Bedürftigkeit nachgewiesen werden muss per Sozialschein, aber das ist schnell geklärt. Hierher kann jeder kommen, Sie können im Prinzip auch mit dem Porsche vorfahren, sollten Sie was brauchen.“ Sie lacht kurz. „Aber wir sehen natürlich die Entwicklung, viele der Nutzer haben über die Jahre einen sozialen Abstieg gemacht, das wird jetzt durch Hartz IV noch beschleunigt. Hier gegenüber ist der Volkspark, und wenn’s kalt ist, dann kommen die Alkoholiker, die Obdachlosen, sag ich mal, hier in den Laden, wärmen sich auf, trinken Tee, essen Kekse. Also, ich habe da schon ein Problem zu sagen, warum wir das nicht wollen, zu sagen, wir sind keine Wärmestube. Also bitte, wenn du Wärme suchst, wenn du Kekse suchst, dann geh dorthin, wo dieses Angebot so gemeint ist. Die Adressen sind ja bekannt, und hier im Hinterhof gibt es eine Volksküche, wo man für ganz wenig Geld essen kann, wir geben Hinweise, aber wir sind konsequent.

Ebenso bei den psychisch Kranken, die hier manchmal reinkommen und massiv Gespräche suchen. Das wollen und das können wir auch nicht leisten, wir geben Hinweise, wo es Hilfe gibt, das ja. Aber wir müssen einfach hart sein, sonst sind wir im Handumdrehen die Wärmestube für das ganze Wohngebiet hier, und das geht einfach nicht. Dafür sind wir nicht zuständig. Da komme ich mir dann natürlich ein Stück weit schlecht vor bei dieser Härte. Und dann brauche ich das Plenum und die Gespräche mit den Aktiven, um das loszulassen, dass wir eben keine karitative Einrichtung sind. Wir sind auch kein Gebrauchtwarenladen, aber letztlich haben wir zwangsläufig von allem ein bisschen dabei.

Aber man muss natürlich wissen, was man will, und seine Pappenheimer kennen. Da gibt’s zum Beispiel eine Familie, das sind fünf Personen, Mutter etwa 50, mit Sohn und Tochter um die 20, ein Baby im Kinderwagen und ein Freund. Macht bei 3 mal 5 15 Dinge. Und es ist ja auch Eigeninitiative gefragt hier, die gehen also nach hinten, machen Tee, setzen sich hierhin und warten auf die Dinge, die frisch reingebracht werden. Die Tochter rafft und packt dann einfach alles schnell in den Wagen, sie nimmt besonders „schöne“ Dinge wie Monopoly, Scrabble, eine Kaffeemaschine, Kindersachen sowieso. Ich habe mir das angeschaut und dachte, wieso muss sie so viel nehmen? Sie hat es einfach nicht begriffen bzw. sie entmachtet uns mit ihrer Anzahl von Leuten. Da habe ich sie angesprochen, obwohl sie das Prinzip ja eigentlich kennt. Dann war sie blubberig, wurde im Tonfall laut, hat sich so aufgeregt, sodass ich dann sagte, bitte, nimm alles mit, du hast es einfach nicht begriffen, auch dass es ein Stück Solidarität ist, wenn man anderen auch noch was Schönes übrig lässt, was sie gebrauchen können. Sie sagte dann nur: ja wieso der und ich nicht?! Da bin ich dann auch am Ende mit meiner Weisheit. Wir haben Aktive, die sich dann trotzdem durchsetzen und die Herausgabe verweigern, aber wir sind eben alle unterschiedlich. Unser Gemeinsames ist diese Idee, ist dieses Projekt, und da sind wir uns hier alle einig, auch in der Geldfrage. Wir hier wollen ja nichts mit Geld zu tun haben, aber in Hamburg, wo sie Miete zahlen müssen, da sprechen sie die Leute schon an. Das war für mich das Interessante beim Umsonstladen-Treffen vor kurzem im November, dass die Läden so verschiedenartig eigentlich sind in der Art, wie das gehandhabt wird – nur die Generallinie, die ist schon klar, und darum treffen wir uns auch.

Wir haben ja das Schild draußen an der Tür hängen, auf dem steht: ‚Sie verlassen jetzt den kapitalistischen Sektor‘, das ist ja schon mal das Erste, worüber man nachdenken könnte. Und viele tun es. Also, es gibt immer noch welche, die sagen, ja, da mache ich mit, das interessiert mich, da bin ich Feuer und Flamme. Sie sehen, hier gibt es einen Freiraum, den man nutzen kann außerhalb der Geldmechanismen. Wir sind da ganz offen für neue Leute, es ist ein Angebot, dieser Umsonstladen. Wenn ich eine Idee habe, kann ich sie reinbringen und selbstbestimmt mitwirken. Man kann das machen. Was verboten ist quasi, es darf damit kein Geld verdient werden. Ich kann die Räume nutzen, ich kann die Technik nutzen. Die ist allerdings momentan defekt. Dass der Internetzugang wieder funktioniert, daran wird gearbeitet, und wir haben ja jetzt einen Aktiven dazubekommen, der computermäßig viel Ahnung hat. Der wird das aufbauen und betreuen. Es ist wichtig, wenn man was ins Leben ruft, dass man sich dafür dann auch verantwortlich fühlt. Das betrifft natürlich letzten Endes auch die Sauberkeit im Laden hier. Ihr habt das ja vorhin so rübergebracht, dass es ziemlich keimig ist, verkommen. Ich persönlich habe das Gefühl auch, und ich werde es noch mal ansprechen in der Vorbereitungsgruppe, dass es mir schon wichtig wäre, regelmäßig sauber zu machen, um das, was ich als keimig empfinde, wegzubekommen. Wir werden sehen, ob das alle wollen.

In der Gruppe, wenn man da sagt: Du, ich hätte das gerne sauberer, da wird dann gern gesagt – gut, dann mach es! Ich kann von mir nur sagen, wenn die Nutzer das so rüberbringen, dann rede ich genauso und sage, der Laden sieht so aus, wie du mit ihm umgehst, wir sind hier keine Angestellten! Ich tu hier mit und mach meinen Teil sauber, wenn du also dieses Regal zu unordentlich oder staubig findest, dann wäre es schön, wenn du, während du suchst zwischen den Sachen, es einfach sauber machst und aufräumst.

Das ist natürlich bei allen ein wunder Punkt. Der Laden ist nun mal so entstanden. Als linksautonomes Projekt hat man andere Schwerpunkte. Aber es ist natürlich schon eine Hemmschwelle für den Mittelstand, das Aussehen. Deswegen bin ich damals ja auch nur mit starken Hemmungen hier reingegangen – ich musste wegen meiner Krebserkrankung zur Körpertherapie, das ist direkt nebenan, und habe so den Laden entdeckt – aber ich habe mich zum Glück überwunden. Also, das ist eine Sache, die ich beispielsweise sehr gut gelernt habe, mit diesem Kram und mit der Keimigkeit umzugehen, zu sagen, es ist nicht so wichtig. Wichtig ist, was wir inhaltlich wollen und dass es funktioniert. Und es funktioniert. Trotz allem, was vielleicht dagegen sprechen mag, haben wir diese wunderbare Mischung der sozialen Schichten, die Leute bringen die Dinge, andere kommen und nehmen die Dinge, und so wälzt sich der Bestand des Ladens in kurzer Zeit immer wieder vollkommen um. Und wenn es uns dann auch noch gelingt, den Nutzern den Sinn unseres Projektes rüberzubringen, Leute anzuregen, dann haben wir doch schon einiges erreicht. Aber wir möchten natürlich noch mehr erreichen, woran wir seit längerer Zeit arbeiten, das ist so eine Art ‚Gratisring für gegenseitige Hilfe‘ aller Art, wir wollen uns jedenfalls nicht auf Gebrauchsgegenstände beschränken.“

Wir fragen, ob es „Ladenhüter“ gibt. Sie zeigt auf die Kinderecke neben der Tür und sagt: „Ja, zum Beispiel Plüschtiere. Da ist der Bedarf anscheinend nicht so groß, oder auch bestimmte Bücher, die ewig nicht weggehen, Lehrbücher aus der DDR-Zeit etwa, auch manche Kleidungsstücke. Wir machen alle viertel oder halbe Jahre Revision, möchte ich fast sagen, und mustern dann aus, geben es an die Caritas oder in den Müll, wenn’s unbrauchbar ist. Den Nutzern sollen ja nützliche und brauchbare Dinge zur Auswahl stehen. Was am besten und schnellsten weggeht, das ist neben den elektrischen Geräten Kleidung und Textilien, also Tisch- und Bettwäsche, das geht gut weg. Auch Haushaltsgegenstände. Auch Geschirr geht gut weg, Musik auch, bei Kindersachen gibt es manchmal Pausen, aber dann kommen wieder Leute mit Kindern, gehen in die Spielecke und nehmen natürlich auch gern was mit.“

Wir bitten sie, einen ganz normalen Umsonstladen-Tag zu schildern. „Ja, also das ist so, ich kann ja nur von dem Tag erzählen, an dem ich da bin, und das ist freitags, aber es ist an anderen Tagen sicher ähnlich. Wir sind meist zwei bis drei Leute, anders ist es kaum zu schaffen, wir nehmen ja nicht nur die gebrauchten Dinge entgegen, wir führen ja auch Gespräche, um das Anliegen rüberzubringen, um Missverständnisse zu klären oder einfach auch nur so, als freundlichen Austausch. Um 14 Uhr machen wir auf, der Bernd ist im Winter meistens schon etwas eher da wegen der Heizerei, und wir, um Tee zu kochen, Kekse hinzustellen, ein bisschen was zu sortieren und zu ordnen. Wenn wir dann aufschließen, stehen oft schon Leute vor der Tür. Die Nutzer kommen rein und verteilen sich nach ihren Interessen. Es wird gebracht, es wird geholt, es ist ein Kommen und Gehen. Sagen wir mal, so etwa 100 Leute kommen im Laufe des Nachmittags herein, davon sind vielleicht 15 Personen alte Bekannte, die fast jeden Freitag kommen.

Der Altersdurchschnitt, würde ich mal sagen, liegt bei den Nutzern zwischen 30 bis 50. Viele kommen paarweise und nicht einzeln, es kommen mal auch kleine Grüppchen, Freundinnen, Bekannte. Selten kommen Touristen. Es kommen oft auch Neugierige, die von uns gehört haben und sich das nur mal anschauen möchten, also gar nichts brauchen. Unter denen, die kommen, sind auch Ausländer – einige Aktive von uns können sehr gut Fremdsprachen, ich leider nicht – naja, und es kommen viele Studenten, viele Leute auch aus der Szene, aber auch eben Rentner und ganz normale Leute hier aus der Wohngegend. Und dann, wie ich schon erzählt habe, kommen auch Obdachlose und Alkoholiker, gehen nach hinten zur Kleidung und gucken, dass sie was Frisches, Warmes zum Anziehen finden. Manche tauschen ihren Mantel und hängen ihren alten auf die Bügel oder ziehen frische Schuhe an und wollen ihre dalassen – die Ansicht über das, was noch brauchbar oder tragbar ist, gehen ja sehr auseinander. Wir bitten sie dann eben, ihre alten Sachen mitzunehmen, denn wir haben hier keine Möglichkeit zur Reinigung oder zur Entsorgung. Und das sehen sie eigentlich auch ein in der Regel, auch, dass hier keine Wärmestube ist.

Unser Freitag ist ratzbatz vorbei. Um 18 Uhr schließen wir, das ist aber nicht so rigide, wenn noch viele Nutzer da sind, bleiben wir einfach noch ein bisschen offen. Und bevor wir gehen, räumen wir hier noch den Tisch ab, spülen das Geschirr, damit die, die am Montag kommen, es ordentlich vorfinden. Ach ja, dann ist freitags auch immer noch … wir haben so eine Food-Coop, und da kommen dann zwischendurch auch noch Leute und holen sich ihre Sachen ab, also das ist was Selbstorganisiertes, die bestellten Sachen sind verpackt in Kisten, das sind biologisch-dynamische Lebensmittel. Die sind nicht umsonst natürlich, die müssen von den Bestellern bezahlt werden, das Geld geht an die Erzeuger. Leider muss ich ja für die meisten Dinge im Leben bezahlen. Es gibt ja radikale aktive Leute, die in den Geschäften überall alles umsonst mitnehmen, also klauen, und das dann wieder auch anderen zur Verfügung stellen. Also, das ist eine Sache, die ich nicht bereit bin mitzutragen! Aber ich habe unlängst eine andere Erfahrung gemacht: Als das bundesweite Umsonstladen-Treffen hier in Berlin war, hieß es, wir gehn containern, also Lebensmittel organisieren, die von den Geschäften weggeworfen werden. Das wollte ich miterleben. Es war das erste Mal in meinem Leben und es war sehr aufregend. Für die anderen war das nichts Besonderes. Die jungen Leute sind in so einen Container reingesprungen, muss ich schon sagen – ich hätte das körperlich gar nicht mehr drauf. Ich stand draußen.

Es war eine Bäckereikette. Das Personal kam raus mit den Sachen zum Wegwerfen. Die waren noch warm! Die waren nicht verbrannt und nichts! Die waren in Ordnung! Das kippten sie alles in den Container rein. Die drinnen drückten sich an die Wand und packten nur noch ein. Aber man hat uns natürlich bemerkt, und die von der Bäckerei schimpften erst, ich bin aber dann hingegangen und habe denen alles erklärt, dass wir also vom Umsonstladen sind und ein Treffen haben, ich habe ihnen auch so einen Flyer von uns gegeben, sie auch eingeladen, mal in den Laden zu kommen. Die waren direkt ein Stück sprachlos. Dann haben wir tütenweise gekriegt. Sie kamen immer wieder raus mit Körben voll Brötchen, Brot, Schrippen, Kuchen, einfach alles. Ich war entsetzt, wie viel da weggeworfen wird normalerweise, man bekommt eine Wut bei dem Gedanken. Es war für mich ein gutes Erlebnis, erstens gegen was zu verstoßen, was man nicht macht, zweitens aus dem Container was zu essen, drittens die Gespräche mit den Leuten dort. Wir hatten es ja vorher mit der ‚Berliner Tafel‘ versucht, ob wir von denen was bekommen können für das Treffen. Erst sah es positiv aus, dann haben sie uns plötzlich, nach wochenlangem Warten hängen lassen, weil wir kein soziales Projekt sind und keine Bedürftigen versorgen. Das sind eben deren Vorgaben und die akzeptieren wir natürlich. Wir haben ja schließlich die Vorgabe, kein karitatives Projekt zu sein.“

Es klopft. Chris, eine junge Kommunikationswissenschaftlerin, wird eingelassen. Sie gehört zum Gründungskollektiv und will uns Fragen zur Geschichte des Projekts beantworten. Wenig später kommt auch Bernd zum Dienst, er wird sich, während wir bei vollem Betrieb das Gespräch weiterführen, um die Besucher kümmern. Dann wird geöffnet, und die ersten Interessenten betreten den Raum. Die meisten gehen selbstsicher zu den Regalen. Eine ältere Frau, gut gekleidet, mit hochgestecktem Haar, verweilt länger in der Kinderecke und geht dann nach hinten zur Kleidung. Eine junge Frau in Jeans und Dufflecoat schaut die Platten durch. Etwas mittellos wirkt eine Großmutter mit zirka achtjährigem Knaben, die sich in der Kinderecke umschaut. Eine studentisch aussehende Frau hat sich für einen Toaster entschieden und geht sogleich. Eine sportlich recht teuer gekleidete Frau kommt grüßend herein, verbindlich lächelnd bringt sie zwei Kartenspiele in Lederetuis, Gläser und einen Porzellanleuchter. Sie geht, ohne etwas angeschaut zu haben. Während uns Chris ausführlich die Gründungsgeschichte des Ladens erzählt, kommt eine ältere, resolute Frau und erklärt, sie habe eine ganze Lastwagenladung Briketts abzugeben wegen eines Heizungseinbaus, die Ladung muss abgeholt werden. Bernd notiert die Adresse, die irgendwo im östlichen Stadtrand Berlins ist, und sagt, man müsse das erst organisieren und werde sich melden. „Aber bald!“, ruft die Frau und eilt davon.

Chris erzählt, dass die Existenz des Umsonstladen in Gefahr sei. Das Haus, so erfahren wir, ist in den 90er-Jahren Objekt von Immobilienspekulanten geworden, Vorderhaus, Hinterhaus und Seitenflügel. Massive Entmietungsaktionen waren die Folge, Abfindungen wurden betrügerisch angeboten, aber nie bezahlt, Schikanen praktiziert, wie Kappung der Wasserleitungen, Auswechseln der Schlösser. Selbst die ehemalige Besitzerin, eine alte Frau, wurde um ihr Geld betrogen. Die Firma scheint verschwunden und pleite, und die Bank, der sie den Kredit für den Hauskauf schuldig ist, schreitet jetzt zur Zwangsversteigerung. Mindestgebot sind 200.000 Euro. 440.000 Euro betragen die Schulden. Die Schulden werden quasi mitersteigert. Nun hoffen hier alle, dass sich keiner für das Objekt interessiert und dass das Projekt Unterstützung findet, falls sich doch ein Interessent findet. Vom Bezirk erwartet man keinerlei Hilfe. Mehr als die Auszeichnung mit dem „Umweltpreis 2002/2003“ durch das Bezirksamt Mitte könne das Umsonstladen-Projekt nicht erhoffen.

Chris wendet sich einem älteren gut gekleideten Herrn zu. Etwas verlegen überreicht er eine Kamera und ein originalverpacktes Beschriftungsgerät. Gabi sagt leise: „Die älteren Leute sind skeptisch, meine Eltern verstehen das hier ja auch nicht. Sie haben einen Bericht im Fernsehen gesehen über den Umsonstladen und meine Mutter saß da und hat zu meinem Vater gesagt: ‚Guck mal, Adolf, das ist doch das, wo Gabi immer hinrennt.‘ Ich kam auch vor im Bericht, und sie sagten: ‚Da ist sie ja!‘ Sie hatten eine Menge rumzunörgeln hinterher, fragten, wie ich hier klar komme mit den bemalten Wänden, ob denn die Sachen gereinigt sind und dass es nicht gerade sauber wirkte und: ‚Wer ist denn der Chef? Das ist wohl der Hans?!‘ Ich sagte: ‚Nein, bei uns gibt’s keinen Chef, wir machen es gemeinsam!‘ Und dann dieser Gedanke, das Geld abzuschaffen, der ist für sie überhaupt nicht nachvollziehbar. Gut, als DDR-Bürger, geschult am Kommunismus, wissen sie natürlich, dass man dem Kapitalismus die Stirn bieten muss, aber doch nicht so!

Wer arbeitet, der stellt was dar, und wer gutes Geld verdient, der ist auch was. Das ist einfach so drin in den Köpfen. Wir gehörten zu DDR-Zeiten ja zu denen … also meine Eltern haben gut verdient. Mein Vater war NVA-Offizier, meine Mutter Lehrerin. Durch den Beruf meines Vaters sind wir viel umgezogen, immer dahin, wo die Armee war natürlich. Wir haben viele Jahre in Prora gewohnt, oben an der Ostsee … ja, genau, das ist da, wo diese gigantische ehemalige Nazi-Ferienanlage ist, fast fünf Kilometer lang ist der Komplex, ich hab gehört, das ist das längste Bauwerk Europas. Ein Teil sind ja Ruinen. Die anderen Blöcke wurden genutzt. Zu DDR-Zeiten war da die NVA drin, das ganze Gelände war militärisches Sperrgebiet. Aber der lange Strand bis Binz war ja zugänglich.“

Wir erzählen, dass unlängst ein fast 80 Hektar großer Teil dieses Nazi-Monuments vom Bundesvermögensamt versteigert wurde bei einer Grundstücksauktion, an einen Käufer, der unbekannt bleiben wollte. Sie schaut erstaunt und sagt: „Ach!“ und fährt dann fort: „Wir haben dort viel gespielt … ich habe eine schöne Kindheit verbracht, muss ich sagen. Ich habe noch vier Geschwister. Wir sind wohl behütet, aber sehr autoritär erzogen worden. Ich habe viele Jahre gegen meine Eltern gekämpft, weil ich sie unmöglich fand, aber ich habe jetzt meinen Frieden mit ihnen gemacht. Es ist eben so, dass sie nur das weitergeben konnten, was sie selber erfahren haben. Auch bei mir musste ja erst mal ein Bewusstwerdungsprozess in Gang gesetzt werden, das ist mühsam und auch schmerzlich manchmal. Aber ich muss sagen, ich kann sie jetzt auch weitergeben an andere, meine Erfahrungen.“ Ein junger Mann mit Kapuzenshirt und Ring im Ohr zeigt ein schönes hölzernes Schachspiel und ein Buch im Vorbeigehen vor und verlässt anscheinend sehr zufrieden den Laden.

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Ein Unbekannter warf am Mittwoch gegen vier Uhr nachts die große Schaufensterscheibe des Umsonstladens ein. Das Loch wurde provisorisch geflickt.