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Archiv-Artikel

Der Krieg um Kiel findet nicht stattÄngste

Der Neonazi-Aufmarsch vom Wochenende: Die NPD bekommt es mit der Angst zu tun, aber auch die Türkische Gemeinde geht lieber in die Kirche, als bei der Antifa mitzulaufen

Manche Geschäfte haben pfiffig auf den 29. Januar eine Inventur angesetzt. Das wirkt nicht so ängstlich. Nur ein, zwei Läden in der Kieler Fußgängerzone haben geöffnet. Sie sind menschenleer. „Die Händler“, sagt der Chef der FDP-Landtagsfraktion, „können den Tag doch ganz vergessen.“ Wolfgang Kubicki ist der einzige namhafte Politiker, der sich nachmittags in der City blicken lässt. Klar, das ist PR, aber immerhin. Oberbürgermeisterin Angelika Volquartz (CDU) hatte sinngemäß empfohlen, die Stadt weiträumig zu umfahren. Jetzt rät ihr Kubicki, sie solle zum Ausgleich „sonntags öffnen lassen“.

Vor den Demos herrscht Nervosität auch bei den Antifa: Übers Vorbereitungstreffen dürfe nichts in der Zeitung stehen, „ich habe dein Ehrenwort“, sagt der Junge in einer Hamburger Kneipe. Versprochen ist versprochen. War ohnehin langweilig.Außerdem gibt Alexander Hoffmann bereitwillig Auskunft. Der Kieler Antifa-Anwalt hat fürs lokale Bündnis „Runder Tisch“ die Gegendemo angemeldet, Anfang Januar, knapp einen Monat nachdem die rechtsextremistischen „Freien Kameradschaften“ ihre Aufmarschpläne kundgetan hatten. „Man muss denen doch zeigen, dass sie nicht erwünscht sind“. Gewalt? Die militanten Antifa-Zeiten seien vorbei, sagt Hoffmann. Da habe es „längst einen Strategiewandel“ gegeben.

Im Web wird mobil gemacht: Da werben rechte und linke Gruppen auf anonymisierten Seiten mit Gewaltbildern aus den Archiven: 1999 gab’s in Kiel bei einer Nazi-Demo Straßenschlachten. Das ängstigt manche: Die Stadtverwaltung, wie gesagt, aber auch Cebel Küçükkaraca, den Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde Schleswig-Holsteins. „Wir wollen hier keinen Krieg“, sagt er. Vom Demo-Aufruf des „Runden Tischs“ distanziere man sich daher und werde mit dem DGB am frühen Vormittag in die evangelische Kirche gehen. Die Grünen treten auch nicht mehr als Unterzeichner auf: Bloß nicht im Wahlkampf in den Ruch von Gewaltbereitschaft kommen. Benno Schirrmeister

Randale

Nach der Demonstration durchbrechen mehr als 1.000 Antifaschisten die Polizeisperren, kreisen den Aufmarschort der Neonazis zwischen Bahnhof und Sophie‘s Markthalle ein. Barrikaden brennen, es fliegen Eier und Farbbeutel. Viele Läden haben geschlossen, Schaufenster sind vernagelt.

„Wir haben ein Recht, auf der genehmigten Route zu marschieren“, wettert der Führer der Freien Kameradschaften Thomas Wulff. Seit gut zwei Stunden stecken die 450 Neonazis aus dem Norden fest. Wochenlang hatte die NPD den Aufmarsch beworben. Nun hat der Landesvorstand die Unterstützung abgesagt, aus Sorge vor „verdrehten Darstellungen“.

Der NPD-Kandidat Peter von der Born ist trotzdem da, er trägt Plakate mit den Aufschriften „Schnauze voll“, „Quittung für Hatz IV“ und „Gute Heimreise“. Nach weiteren zwei Stunden leitet die Polizei die Neonazis zurück zum Bahnhof. „Aus Sicherheitsgründen haben wir die Route verkürzt“, sagt der Polizeisprecher. andreas speit

Anreise

Abfahrt ist früh morgens um 7.28 Uhr, weil das Wochenendticket ja nur im Nahverkehrszug gilt. Neun Grenzschützer allein auf der Strecke von Bremen nach Hamburg, einige tragen die langen Schienbeinschoner aus stoßfestem Hartplastik. Aufgeschreckt eine unbeteiligte Reisende „was ist denn hier los?“, im Oberdeck bilden Antifa, Asta und andere eine schläfrige Reisegruppe, extremistisch höchstens der Knoblauchdunst. Zusammenfluss: Hamburg Hauptbahnhof, die Bahn Richtung Kiel wird voll, man gibt sich revolutionär indem man egal wo Zigarretten ansteckt, aber den Konflikt mit dem Zweimeterhühnen vom BGS scheut man denn doch: „Sie wissen doch“, sagt er bloß, „dass hier Nichtraucher ist?“ und schwupp ist die Kippe aus. Vor Neumünster legt er die Stirn in Falten, rückt sich die Eier gerade und tritt, mit seinem Kollegen, in den Türrahmen. Neumünster gilt als Nazi-Nest. Steigt aber keiner zu. bes

Volksmusik

„Kamerad, ich weiß, wie du dich fühlst, wie ein Fels in der Brandung, umspült von Dreck“, singt Michael Regener alias „Lunikoff“, der frühere Sänger der Band Landser und seit kurzem NPD-Mitglied, auf der CD, und Liedermacherin Annett assistiert: „Ich habe für Deutschland einen Sohn geboren. Meinen Sohn will ich lehren, was Vaterland heißt!“ Seit mehreren Tagen wird der Rechts-Rock-Sampler der NPD im schleswig-holsteinischen Wahlkampf verteilt. Über 5.000 CDs sollen kostenlos an die Erst- und Jungwähler gebracht werden. NPD-Spitzenkandidat Uwe Schäfer betont: „Die kostenlose Verteilung dieser Musik-CD“ sei auch wichtig, weil „volkstreue Musik – ob traditionell oder modern – ein entscheidendes Element zur Wahrung der nationalen Identität ist“. Laut NPD-Wahlkampfleiter Ingo Stawitz erwartet die Partei bis zu 11 Prozent der Stimmen der 18- bis 29-Jährigen. An vielen Schulen des Bundeslandes hatten Schülervertretungen und Lehrerschaft bereits im vergangenen Jahr nach der Ankündigung der NPD, eine „Schulhof-CD“ verteilen zu wollen, Projekttage gegen rechts veranstaltet. Vor allem an Berufschulen will die NPD die Gratis-CD austeilen. Bereits im sächsischen Wahlkampf gab sie die CD „Schnauze voll? Wahltag ist Zahltag“ heraus. ANDREAS SPEIT

Euphorie

Die Zahl, ein Raunen, und bei der nächsten Durchsage wächst sie schon wieder: „Wir sind deutlich mehr als 2.000“ hatte die Frau am Mikro bei der ersten Schätzung gesagt, die bereits die Erwartungen übertraf. Bei der zweiten spricht sie schon von „über 4.000“. Am Ende sagt die Polizei – und 2.900 Polizisten können sich nicht irren –, dass 7.000 Menschen an der Demo des „Runden Tischs gegen Rassismus und Faschismus“ teilgenommen haben. Eine bunte Menge, viele selbst gemalte Transparente. Es werden Musikwünsche geäußert, ein Junge reicht eine HipHop-CD auf den Lautsprecherwagen. Sie wird aufgelegt.

Unterdessen hat Panik auch die Unabhängige Landesrundfunkanstalt erfasst: Die Freie Radio Cooperative Husum hätte über die Frequenz des Offenen Kanals (OK) live über Ereignisse rund um die Demos berichten sollen – für die Demonstranten. „Hierüber“, so die Husumer, „bestand eine verbindliche Vereinbarung“. Auf Drängen der Polizei ließ der Leiter des OK die Schlösser auswechseln und den Sendebetrieb untersagen. „Eine Zensur findet nicht statt“, steht im Grundgesetz. bes

Party

Nach der Action die Party: Immer wieder finden nach Neonaziaufmärschen Rechtsrockkonzerte statt. Auch am vergangenen Samstag. Nach dem Aufmarsch in Kiel gibt es in Tostedt ein als „Geburtstagsfeier“ getarntes Konzert. Einige Teilnehmer fahren gleich nach dem Marsch in die niedersächsische Kleinstadt. Neonazis mit „Landser“-Pullovern kontrollierten den Einlass zum „Rockschuppen“ am Bahnhof. Laut Polizei singen die zwei Bands an dem Abend keine verbotenen Texte und verwenden auch keine verfassungsfeindlichen Zeichen. „Wir haben das überprüft“, hebt ein Beamter der Polizei Winsen/Luhe hervor. Im Vorfeld stellt die Polizei allerdings bei Kontrollen inkriminierte Rechtsrock-CDs und waffenähnliche Gegenstände sicher. Die Tostedter Neonaziszene organsiert seit Jahren Konzerte. ANDREAS SPEIT

Dörverden

In Kiel dient der olivgrüne VW-Bus noch als Lautsprecherwagen beim Neonaziaufmarsch „Gegen Multikulti & Hartz IV – Das Volk sind wir“, und einen Tag darauf nutzen ihn Jürgen Riegers neue Zöglinge auf dem „Heisenhof“ bei Dörverden. Von der Einfahrt des ehemaligen Bundeswehrgeländes aus versuchen sie am Sonntag, eine Gegendemonstration durch Musikbeschallung zu stören. Ohne Erfolg. Die Polizei droht die Beschlagnahmung an, so dass die Neonazis nur noch verbal schimpfen können. An die 2.000 Menschen demonstrieren gegen das Neonazizentrum. Trotz Nieselregens ziehen sie gut gelaunt zu dem von Rieger erworbenen Anwesen am Ortsrand. „Für die widerlichen Phantasien eines Jürgen Riegers, arischen Nachwuchs züchten zu wollen, gibt es im Landkreis keinen Platz“, erklärt die stellvertretende Landrätin Karin Labinsky-Meyer. Manchen Spaziergänger ärgert, dass die Baubehörde den „Heisenhofern“ das Wohnen nicht untersagen konnte. „Peinlich, was da passiert ist“, sagt eine Frau. Das Verbot scheiterte, weil nicht alle Bewohner das Behördenschreiben erhielten. Unlängst verurteilte das Jugendschöffengericht Stadthagen den regelmäßigen Heisenhof-Gast Arwid Strelow zu drei Jahren auf Bewährung wegen vorsätzlicher Körperverletzung. Bei einer NPD-Demo in Rotenburg/Wümme hatte er einen Gegendemonstranten angegriffen (taz berichtete). ANDREAS SPEIT