: 500 Stunden sind ein Tag
„24H BERLIN“ In drei Monaten wird Volker Heises tollkühnes TV-Projekt gesendet. Rund 24 Menschen arbeiten derzeit an der Bändigung des Filmmaterials, allen voran Heise, der schon den „Goodbye-Effekt“ fürchtet
Volker Heise
VON DAVID DENK
Wenn Volker Heise im Schneideraum sitzt und mal wieder feststellt, dass ein entscheidendes Bild fehlt, beneidet der Dokumentarfilmer seine schreibenden Kollegen. „Was nicht im Material ist, das hast du nicht. Ende!“, sagt Heise. Die Diagnose im Cutter-Deutsch lautet „Backen ohne Mehl“ und kommt einem Todesurteil gleich. Die Cutterin löscht die Bilder, alle aus diesem Handlungsstrang. Heise nimmt das zum Anlass, sich ein bisschen darüber aufzuregen, dass Fernsehen als manipulatives Medium gilt und nicht die Zeitungen, die er für „viel lügnerischer“ hält. Ein Printjournalist könne nämlich Ereignisse, bei denen er nicht zugegen war, nachrecherchieren und durch eine möglichst präzise Schilderung der Umstände den Eindruck erwecken, doch dabei gewesen zu sein. Und das gelte noch nicht mal als anrüchig, sondern als Ausdruck von Könnerschaft, sagt der 47-Jährige, der früher selber für Zeitungen geschrieben hat, leicht spöttisch.
Lange hält Heise sich mit solchen Überlegungen aber nicht auf, dafür fehlt ihm schlicht die Zeit. Am 5. September, in ziemlich genau drei Monaten also, wird Heises monumentales TV-Projekt „24h Berlin“ gesendet, in Deutschland im RBB und auf Arte, aber auch in den Niederlanden, in Finnland und Israel. 80 Kamerateams haben dafür exakt ein Jahr zuvor „einen Tag im Leben“ der Stadt und ihrer Einwohner gefilmt, wie die Produktionsfirma Zero One Film das Programm im Untertitel nennt. Wie tollkühn seine Idee eines 24-stündigen TV-Programms tatsächlich war, ist Heise wohl so richtig erst klar geworden, als es an die Bearbeitung der über 500 Stunden Filmmaterial ging. „Für ‚24h Berlin‘ kann man sich vom Autorenmodell komplett verabschieden“, sagt Heise in der Mittagspause. Das gilt sowohl für die Regisseure der Drehteams, die an der weiteren Entstehung nicht beteiligt sind, als auch für Heise, der nicht mitgedreht hat. „Ich bin dafür da, den großen Plan zu haben“, beschreibt er seine Rolle, die ein seltsamer Zwitter ist: Er hält sich im Hintergrund und steht doch im Mittelpunkt des Projekts, das ohne ihn nicht denkbar wäre.
In der Küche der Kreuzberger Postproduktionsfirma hat sich das Team zum Mittagessen versammelt. Es gibt Spinatlasagne und Möhrensalat, von einer Köchin zubereitet, wie jeden Tag. Zum Essenholen oder gar Selberkochen hat hier niemand Zeit. Rund 24 Menschen kümmern sich parallel um Schnitt, Bildbearbeitung, Vertonung und Mischung – teilweise im Schichtdienst. Drei bis vier Cutter schneiden nachts vor, was tagsüber von Kollegen weiterbearbeitet wird. Heise selbst arbeitet seit Wochen Doppelschicht, sitzt erst im Schnitt und später über seinen Texten. „Der 24-Stunden-Mann“, wie die taz Heise in der Reportage vom Drehtag nannte, ist zum 24/7-Mann geworden.
Nach dem Mittagessen zieht sich Heise mit Cutterin Annette Muff in einen der Schneideräume zurück. Ihre undankbare Aufgabe: Etwa 30 Stunden überschüssiges Material müssen „ausgelagert“, also vom Server auf eine externe Festplatte überspielt werden. Direkt löschen kommt nicht in Frage. „Wenn man’s löscht, braucht man’s“, so Heises leidvolle Erfahrung. Nebenbei strukturieren Heise und Muff die halbe Programmstunde zwischen 16.30 Uhr und 17 Uhr vor, besprechen, welches Material verwendet wird und in welcher groben Reihenfolge. Tatsächlich schneiden wird die Cutterin am nächsten Tag alleine – immer unter der Maßgabe, dass das Material im Fernsehen zur gleichen Uhrzeit zu sehen sein wird, zu der es genau ein Jahr zuvor aufgenommen wurde. Muff und ihre Kollegen hätten „eine viel härtere Objektivität in der Bewertung des Materials“ als er, sagt Heise, der sich zwar vom Dreh ferngehalten hat, aber jeden der etwa 15 Hauptprotagonisten und auch die anderen Mitwirkenden zumindest vom Papier kennt und um die Vorgeschichte und eventuelle Schwierigkeiten des Castings weiß.
Seine Protagonisten sind Heise heilig – bis an die Grenzen der Paranoia und auch ein wenig darüber hinaus. Am Drehtag waren die auf eine Stellwand gepinnten Karteikartenschnipsel mit ihren Namen drauf umgedreht, jetzt im Schneideraum kann er sie vor neugierigen Journalistenblicken nicht schützen. Weil ihm dabei unwohl zumute ist, ermahnt er den Besucher, keine Details zu nennen, die seine Protagonisten verunsichern oder gar verärgern könnten. Wie elementar deren Vertrauen für „24h Berlin“ ist, hat Heise zuletzt gemerkt, als die Mutter eines nur am Rande auftauchenden minderjährigen Jungen die „EE“ verweigerte, die Einverständniserklärung. Heise musste sich deswegen auch von der jungen Frau aus einem Plattenbaugebiet trennen, um die es ihm eigentlich ging – „eine richtige Niederlage“, resümiert er. „Das war eine der schwierigsten Recherchen überhaupt.“ Zwölf Rechercheure haben monatelang Berliner gesucht: berühmte und unbekannte, alte und junge, arme und reiche, Ossis wie Wessis.
Nicht zuletzt deren akribischer Vorbereitung ist es zu verdanken, dass Heise über Menschen, die er noch nie persönlich getroffen hat, wie über alte Bekannte sprechen kann, zumeist voller Wärme und Zuneigung. Eine junge Altenpflegerin etwa hat es Heise und Muff gleichermaßen angetan. „Sollte ich mal in die Situation kommen…“, sagt Heise und wird von Muff unterbrochen: „Wir wollen sie!“ Gelächter. „Ich treffe manchmal Protagonisten im wahren Leben“, hat eine Kollegin von Muff beim Mittagessen erzählt, „und das ist immer ein bisschen seltsam, denn ich kenne die, die kennen mich aber natürlich nicht.“ Sie habe sich schon dabei ertappt, wie sie jemandem im Kaufhaus einen Tick zu lange angeguckt habe: Irgendwoher kennen wir uns, aber ich komm grad nicht drauf – bis ihr einfiel, woher: vom Schneidetisch.
Dass Heise und Muff die Altenpflegerin mögen, die gerade auf den Monitoren vor ihnen einen etwas verlotterten älteren Herrn bei sich zu Hause versorgt, erschließt sich auf den ersten Blick, so unverkrampft und würdevoll geht sie mit ihm um. Was da schon eher verwundert, ist, dass Volker Heise erklärt, er habe durch die Aufnahmen des bekannten Dokumentarfilmers Andres Veiel („Die Spielwütigen“) Respekt vor Bild-Chefredakteur Kai Diekmann bekommen. „Man hat einfach das Gefühl, Diekmann ist ein Malocher, der mit viel Leidenschaft am Werk ist“, sagt Heise. Was ihn als Filmemacher aber besonders freute: „Kai Diekmann hatte keine Scheu, auch vor der Kamera Kai Diekmann zu sein“, habe sich völlig natürlich gegeben und überhaupt nicht gefallsüchtig.
Auch Heise weiß, dass er, seinem friedlichen Wesen zum Trotz, nicht allzu nett mit seinem Team umgehen darf – besonders in der Schlussphase eines Projekts. Bei einer früheren Regiearbeit des Grimme-Preisträgers („Schwarzwaldhaus 1902“) drohten ihm Team und Protagonisten gegen Ende der Dreharbeiten zu entgleiten – der „Goodbye-Effekt“, klärte ein Psychologe Heise auf und riet ihm, ein bisschen härter durchzugreifen. „Zwei Wochen Arschloch – das war nicht schön“, kommentiert Heise das Offenkundige. Inzwischen hat er viel mehr Routine, einen härteren Hund hat das allerdings nicht aus ihm gemacht. Deswegen entschuldigt er sich bei seinem Team schon mal prophylaktisch: „Wenn ich richtig mies werde, wisst ihr, das ist eigentlich mein Psychologe.“