: Verkehrte Welt
Es gibt Versuche, in Norddeutschland Karnevalstraditionen zu etablieren. Derzeit lassen sich die traurigen Resultate beobachten: Von Lübeck bis Flensburg wird Schleswig-Holstein längst flächendeckend mit so genannten Prunksitzungen bespielt, Schwerin vergleicht sich mit Köln. Das abschreckendste Beispiel aber bietet Bremens hüftsteifer Sambakarneval
Es dürfte ihn nicht geben. Aber es gibt ihn. Damit ist die ganze Problemlage ausreichend charakterisiert. Karneval im Norden, hoho, sagen Freunde und Bekannte immer, das geht doch gar nicht, die kühlen Nordlichter sind dazu ja gar nicht fähig, die Fischköppe. Das ist zwar sachlich völlig richtig. Aber genau da liegt das Problem. Norddeutsche feiern Karneval, obwohl sie dessen nicht mächtig sind.
Das abschreckendste Beispiel bietet natürlich Bremen, wo einmal jährlich hunderttausend hüftsteife Hanseaten meinen, sich in Sambarhythmen zu wiegen. Diese vermeintlichen Sambarhythmen werden – jedes erotischen Subtextes entledigt und jedes unkeuschen Gedankens bar – von linksalternativen Endvierzigern mit lila Halstüchern und verbissener Miene auf einschlägige Percussionskörper gedroschen, als gelte es gegen eine weitere Präsidentschaft George W. Bushs anzutrommeln. Oder, was die Hauptfreizeitbeschäftigung und das konsequent verfolgte Ziel aller ehrenwerten Bremer ist, Menschen vor dem irregulären Überqueren von Fußgängerüberwegen abzuhalten.
Gehen Sie nie bei Rot in Bremen über die Straße! 12 Uhr Mitternacht, Nieselregen, kein Verkehr, aber die Ampel ist auf Stopp geschaltet – ein Schritt vom Bordstein und der Bremer schnauzt aus dem Hinterhalt „Stehen geblieben! Rot, es ist rot! Ich hole die Polizei!“ Genauso klingt Samba an der Weser, protestantisch ernst, jeder Schlag ein Baustein in der Burg des Bewusstseins moralischer Überlegenheit, zusammen gefasst in dem Dünkelsatz, dass das „nicht so wie der rheinische Karneval“ sei, und eben deshalb gut. Weil den, das wird stilltrommelnd vorausgesetzt, jeder grässlich zu finden hat.
Norddeutsche Karnevalisten haben grundsätzlich dasselbe Problem: Sie leben nicht in Köln. Sondern in Norddeutschland. Wenn sie in Köln leben würden, müssten sie sich von nichts und niemandem abgrenzen. In Köln feiert man Karneval – und damit gut. Mit Einschränkungen funktioniert dieses Erklärungsmuster gerade noch in Osnabrück, wo man allerdings so nördlich doch ist, dass Prunksitzungen mit Rücksicht auf Gedenkveranstaltungen abgesagt werden: Am Jahrestag der Befreiung von Auschwitz wollte das Domkapitel ursprünglich seine traditionelle Fastnachts-Party begehen. Das wurde aber aus Rücksichtnahme storniert. Der rheinische Karneval kennt solche Rücksichten nicht. Er ist absolut. Und er ist absolut distanzlos. Wer Karneval feiert, wird deshalb immer mit Köln, gelegentlich auch mit Mainz verglichen. Was bedeutet: Er muss sich abgrenzen. Ständig.
Beweise? Nichts leichter als das. In Schwerin beispielsweise lautet das diesjährige Fastnachtsmotto „nicht in Mainz, nicht in Kölle, mit dem SSC 79“ – das ist das Kürzel des örtlich führenden Fasching-Anbieters – „durch Himmel und Hölle.“ Zunächst fällt auf: Das ist Hochdeutsch, Amtssprache und ungelenk formuliert wie ein Verwaltungsbescheid zur rückwirkenden Erhebung von Regenwassergebühren. Hinzu kommt die grammatikalische Konstruktion: Ein „Nicht“ am Anfang, dem ein unausgesprochenes „sondern“ folgt, eine Gegensatz- und Werte-Behauptung. Etwas unkarnevalistischeres als den Versuch, eine Hierarchie zu stützen oder zu etablieren lässt sich gar nicht denken. Die Funktion des Karnevals nämlich ist: Sie zu zerstören. Oder zu ignorieren. Deshalb bedient man sich, dort wo Karneval gelebt wird, des unpräzis erdigen Kölsch: „Laach doch ens, et weed widder wäde!“ hieß der genialische Slogan des Kölner Rosenmontagszugs 2004. Das will nichts bedeuten, das bedeutet auch nichts, alles, was Verweis auf ein bestimmtes Etwas sein könnte, ist im unergründlichen „et“, zusammen gefasst, aufgehoben und zerstört. Das rheinische „et“ ist die Nachtseite der Sprache, der Glutkern der Karnevals-Idee, in der Karnevals-Denken und -Ohnmacht verschmelzen. Man kann es auch Suff nennen.
„Wir sind kein Abklatsch des rheinischen Karnevals“, sagt auch Wolfgang Rühmann. Wolfgang Rühmann wohnt in Neumünster. Im World Wide Web existieren Fotos von ihm, die ihn im weißen Jackett und mit rot-weißer Narrenkappe zeigen. Denn Rühmann ist Präsident des norddeutschen Karneval Verbandes (NKV). Den gibt es schon seit 51 Jahren, und er bündelt und organisiert Festivitäten, laut Narrenfahrplan 143 Termine in diesem Jahr, die eben „nicht als Abklatsch des rheinischen Karnevals“ zu verstehen sind, wie Rühmann wiederholt. Sondern? „Der norddeutsche Karneval findet eher in Sälen statt.“ Natürlich gebe es „vereinzelt“ Umzüge, „die sturen Dithmarscher“ würden dazu neigen, aber die „meisten Veranstaltungen haben Ball-Charakter“. Außerdem sei es eher unüblich, sich zu verkleiden. Der Norddeutsche zieht sich lieber seine Abendgarderobe an, setzt sich in einen Saal, lässt sich zweifelhafte Reimereien und „kabarettistische Beiträge“ vorsprechen. Platt? Gibt’s ganz selten. Einen eigenen Ausdruck für die Beiträge, die der Norddeutsche sich da so vortragen lässt, hat er freilich nicht gefunden. Deswegen bedient er sich des Lehnworts „Büttenrede“.
Bütt heißt im Rheinland so viel wie Fass, genauer: Jauche-Fass, Regen-Fass oder Mülleimer. In die Bütt kommt, wer Jauche redet. Wer viel Jauche redet, ist ein guter Büttenredner. Witzig sind Büttenredner grundsätzlich nicht, geschweige denn kabarettistisch, und würde die Bütt jemals ins Zentrum des Karnevals rücken, würde es den nicht mehr lange geben; die so genannten Prunksitzungen dienen als Vorwand, durch die Verkleidung unkenntlich gemacht unter dem Tisch zu kopulieren, während vorne irgendjemand steht und Müll und Zoten von sich gibt und das sitzende Narrenvolk sich bis weit über die Kante alkoholisiert: Kotzflecken stören nicht, ist ja keine Abendgarderobe, sondern bloß irgendein Kostümfummel, der die tabuisierten Körperöffnungen betont. Das ist nicht hübsch, man kann das sogar eklig finden. Aber vom Standpunkt der Seelenhygiene ist das grandios.
In Schleswig-Holstein scheint man Bütten-Rede irgendwie mit Büttenpapier zu assoziieren, erträgt das Gestammel mit Schlips und Anzug, nippt dazu am Korn, singt „An der Nordseeküste“ und meint das wäre nun Karneval. „Der Norddeutsche geht nicht so gerne aus sich heraus“, erläutert Rühmann. Das sei„eine Mentalitätsfrage“. Da hat er völlig recht. Karneval ist eine Frage der Mentalität. Das erlaubt aber auch nur einen Schluss: Karneval in Norddeutschland ist ein einziges Missverständnis. benno Schirrmeister