Blicke über den mentalen Belagerungsring

WIENER FESTWOCHEN Mitten in der von der österreichischen Rechten angefachten Anti-EU-Stimmung verhandeln drei Theaterstücke aus Istanbul die Konstruktion von Geschlechteridentitäten als zentrale Frage und beschleunigendes Moment türkischer Modernisierung

VON UWE MATTHEISS

„Abendland in Christenhand“, plakatierte die radikale österreichische Rechte zur Europawahl. Nicht nur der Slogan der FPÖ markiert ein Diskursniveau, das den Luftdruckverhältnissen eines stürmischen Wahltags in Wien ziemlich nahe kommt. Im ungefähr viertreichsten Land der EU votierten mehr als ein Drittel der WählerInnen antieuropäisch. Das Thema EU-Erweiterung war so präsent im Wahlkampf, als ob hauptsächlich in Wien darüber zu entscheiden wäre. Der Wohlstandsrassismus findet endlich sein Mantra: Die Türkei ist unter allen Umständen und immerwährend von den Fleischtöpfen der Union fernzuhalten.

Die Wiener Festwochen haben einen Blick über den mentalen Belagerungsring hinaus eröffnet, der sich dieser Tage ohne Feindeinwirkung um die Selbstwahrnehmung der Stadt zuzog. Wo sind nun die Millionen Männer und Frauen, die nichts sehnlicher erwarten als innergemeinschaftliche Freizügigkeit, um mit den „Inländern“ Europas in Konkurrenz um Waren und Dienstleistungen, Arbeits- und Kindergartenplätze, Sozialleistungen und Geschlechtspartner zu treten? Doch Kriseneuropa scheint gar nicht so begehrt, wie seine Bewahrer es hoffen. Nein, wirtschaftlich gesehen braucht die Türkei Europa nicht, sagen Elçin und Burçin. Geboren sind beide als Männer im Südosten der Türkei, aber sie leben als Frauen in Istanbul. Für den gesellschaftlichen Fortschritt, für die Sicherung individueller Freiheiten und Bürgerrechte sei der Beitritt unerlässlich, finden die Transsexuellen. Das mit den Bürgerrechten betrifft für sie nicht nur den hypothetischen Fall einer Kollision mit staatlicher Gewalt. Für Elçin und Burçin geht es um Alltagserfahrung.

Was sie berichten, was die Installation „Istanbul, Transgelinler“ von Barbara Ehnes über das Leben der Transsexuellen im Viertel Tarlabasi unweit der noblen Einkaufsmeile Ístikal Caddesi im alten europäischen Teil der Stadt zeigt, wäre hinreichender Asylgrund. In der Parkanlage am Wiener Karlsplatz zeigt das Innere eines Kuppelzelts nacheinander sechs kurze Porträts, sechs präzise Alltagsbeschreibungen: Übergriffe der Polizei, gewalttätige Freier, Häme, Spott, Einsamkeit, kleine Fluchten, Glücksmomente.

Alçins religiöse Erfahrungen in der nichtdiskriminierenden Praxis einer Aleviten-Gemeinde. Burçins Wunsch, später, wenn auch um den Preis der Aufgabe von Sexualität, in den Heimatort zurückzukehren. Schnell verschwindet die postmoderne Fröhlichkeit aus dem Diskurs von Geschlechteridentitäten, die das Doing Gender allzu gern in nicht von Herrschaft erfüllten Räumen vorstellt.

In „Talarbasi“ sind die Grenzen von individueller Wahl und erzwungenem Leben in sexueller Ausbeutung nicht mehr auszumachen. Die Arbeit von Barbara Ehnes bleibt in der Beschreibung unspektakulär und verschiebt in ihrer Kleinräumigkeit den Rezeptionsvorgang vom anonymen Schauen hin zur persönlichen Teilhabe.

Helles Geschnatter erfüllt dagegen eine Spielstätte von „brut“, dem kürzlich erst neu aufgestellten Koproduktionshaus für die freie Szene in Wien. „Oyun deposu“ (Stück Depot) ein junge freie Gruppe aus Istanbul, verhandelt abweichende weibliche Identitätsentwürfe in einer Übergangsgesellschaft auf der Folie des Andersen-Märchens vom hässlichen Entlein. „Hässliches Menschlein – Çirkin Ínsan Yavrusu“ fragt danach, wie das geht – lesbisch sein, Kurdin sein – in einem Umfeld, das vielleicht gerade erst jenseits der vorgehaltenen Hand eine öffentliche Sprache dafür gefunden hat. Oder auch die symbolisch exponierte Frage nach dem Kopftuch, bei der es den laizistischen Eliten des Landes wohl nicht immer um Laizismus, oft aber um Klassenkampf von oben geht. Die Putzfrau mit Kopftuch hat noch selten gestört, die Studentin mit Kopftuch ist eine Staatsaffäre. In der Inszenierung von Maral Ceranoglu liefern drei Schauspielerinnen ein Stakkato aus verdichteter Alltagsrede und parodistischen Ausritten ins Melodram. Modernisierung wird hier als sich selbst überholende Beschleunigung erfahrbar. So ziemlich alles an Konflikten, was mit den einst neuen sozialen Bewegungen sozialisierte WesteuropäerInnen in ihren behäbigen Biografien über Jahrzehnte bis in die unmittelbare Gegenwart durchlebt haben, steht hier gleichzeitig auf einer Bühne.

„Der Schrei der Eurydike – Evridike’nin Çigligi“, ebenfalls im „brut“, versucht dem stummen Leiden der Eurydike, der Sophokles in der „Antigone“ gefühlte vier Verse Jammers widmet, eine Stimme zu geben. Sahika Tekand inszeniert ein hartes Chorkonzert im Halbdunkel als unmittelbare Handlungsanleitung für die Gegenwart mit Kreon als militärischer Charaktermaske mit Teppichbeißerqualitäten. Die antiken Texte sind kulturelle Universalien, keine Versatzstücke von Abendlandideologien. Vorsicht: Die Lektüre von „Antigone“ könnte am FPÖ-Wählen hindern.