Die Deutschen als Indianer

Künstlerisches Kraftzentrum im zentrifugalen Brillanzzwang: Friedrich von Gagerns Indianergeschichte „Der Marterpfahl“ unter der Regie von Frank Castorf an der Volksbühne

Die Volksbühne greift erstmals einen Stoff auf, der auch die eher westlinke antideutsche Deutung zulässt

Tröstlich, dass der gute alte Regieeinfall an der Volksbühne niemals, niemals untergeht. Gleich am Anfang liegt ein nackter Mann auf der Bühne und singt. Sein Körper ist von runden Fleischwurstscheiben bedeckt. Ein anderer Mann kommt herein und lässt die Hunde los. Die Hunde entblättern den Mann von seinem Wurstkleid. Viel, viel später sitzt der Mann, der die Hunde hereingelassen hat, auf einem Pferd und singt Brahms, der ehemals nackte Mann hält das Pferd und singt mit. Der stämmige Gaul dürfte so manche Bierkutsche gezogen haben, bevor ihm sein lecker Gnadenbrot im Volksbühnen-Streichelzoo konzediert wurde. Der Mann auf dem Pferd hat zwischendurch als eine Art Hausmeister und Begrüßungsgeldzuteiler für DDR-Bürger gewirkt und Brocken aus Heiner-Müller-Interview-Antworten deklamiert. Einmal war er auch irakisches Folteropfer in Abu Ghraib. Mit Sophie Rois als Lynndie England.

Heiner Müllers Lieblingsautor war der vergessene Halbexpressionist und Indianerbücherautor Friedrich von Gagern. Deswegen geht es um das Begehren der Deutschen, Indianer zu sein. Besonders in der DDR. Diesen thematischen Komplex hält die gelungene Mischung aus steingewaschenen DDR-Grenzgänger-Outfits der Wendezeit und sächsischen Freizeitrodeo-Kostümen mit Fuchsschwänzen, Fellen und Fransen, in die die Schauspielerhorde zunächst gezwungen wird, recht gut zusammen. Später leidet der Zusammenhang dann wieder unter viertelstundenlang mit sich allein gelassenen rein brillanten Regieeinfällen. Castorf verlässt sich da ganz auf Sophie Rois. Da geht nichts schief mit der Brillanz.

„Der Marterpfahl“ ist eine Indianergeschichte von Gagern und bildet mit drei pointengespickten Müller-Interviews das Textmaterial. Für so eine Pointe hat Müller manchmal ja auch Großmütter verditscht. Etwa wenn er in einer umständlichen Geschichte über Wilde in Afrika den Holocaust zu einem lediglich geografisch leicht verrutschten Kolonialverbrechen erklärt. Aber auf der Bühne zählt halt die Brillanz. Und unschlagbare Monologanfänge wie: „Ich habe mal in Bulgarien LSD genommen.“ Neben Müller und Indianerspielen sorgt die Musik für Kontinuität. Nach Brahms kommt ein Strauss von kompetent ausgesuchten und lang ausgespielten Countrynummern.

Frank Castorfs letzte Inszenierungen krankten daran, dass die Schauspieler immer virtuoser und die Regieeinfälle pointierter wurden, während es inhaltlich um nichts Erkennbares mehr ging. Nun ist wenigstens Besserung in Sicht. Die sonst in ostlinker Tradition antiimperialistisch und antiamerikanisch getunte Volksbühne griff zum ersten Mal einen Stoff auf, der auch die eher westlinke antideutsche Deutung zulässt. Müller dachte ja in beide Richtungen. Der Weg von der verspäteten Nation, die sich bis heute gern als heidnische Horde imaginiert (siehe Gothic-Kultur) und im Kampf der Wilden gegen die britisch-französische Zivilisation nicht aus humanistischen Gründen immer auf Seiten der Indianer steht, zur Hitler-Jugend gipfelt in Müllers Diktum, „Deutscher sein heißt Indianer sein“. Nach zirka einer Stunde setzt sich aber eher die antiamerikanische Linie (Indianer-Ermorden/Iraker-Foltern) durch. Trotzdem hält erstmals seit dem „Idiot“ die inhaltliche Spannung bis zum Ende.

Das hat paradoxerweise auch damit zu tun, dass erkennbar mehrere Köche diesen dichten Brei angerührt haben. Ursprünglich war es eine Marthaler-Produktion, der dann erkrankt das Projekt an Castorf übergeben hat. Der hat die nun fest an der Volksbühne engagierte Meg Stuart einbezogen, so dass die Darsteller nicht nur überschwänglich rennen und sich katzbalgen, sondern dies zuweilen auch choreografiert tun. Das Bühnenbild von Anna Viebrock sowie der Einfluss der ebenfalls nun fest an der Volksbühne als Dramaturgin wirkenden Marthaler-Kollaborateurin Stephanie Carp und einige typisch Marthaler’sche deeskalierende Momente, vor allem der ausgefadete, stille Schluss vervollständigen Eklektizismus und Patchwork. Gerade diese Erkennbarkeit der unterschiedlichen Regiestile, dazu das von Bettina Stucky der dominanten Sophie Rois entgegengesetzte Komplement einer anderen Bühnen- und Körperbeherrschung setzen dem zentrifugalen Brillanzzwang ein künstlerisches Kraftzentrum entgegen.

DIEDRICH DIEDERICHSEN