Spannung, einmal positiv
Der Erfolg von Mahmud Abbas hängt nicht nur von ihm ab, sondern vor allem von Israel und den USA. Derzeit besteht eine Chance auf Frieden, doch das Zeitfenster ist schmal
Die Erklärungen und Zugeständnisse der vergangenen Wochen sind kein Anlass zu Euphorie
Durch seinen überzeugenden Wahlsieg erhielt der neue palästinensische Präsident Mahmud Abbas die demokratische Legitimation für einen innenpolitischen und einen friedenspolitischen Neuanfang: Reformen und eine Wiederbelebung des Verhandlungsprozesses mit Israel stehen auf der Tagesordnung. Mahmud Abbas bedarf fast herkulischer Kräfte, um die vor ihm liegenden politischen Aufgaben zu bewältigen. Sein Dilemma besteht darin, dass Erfolg oder Scheitern seiner Politik weitgehend von Israel – beziehungsweise amerikanischem Druck auf Israel – abhängen. Ohne die israelische Besatzungsmacht geht eben (fast) nichts.
Die Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung genießt innenpolitisch hohe Priorität, denn in vielen Städten und Dörfern Palästinas herrschen anarchische Verhältnisse. Von politischen Gruppen oder Stammesverbänden organisierte Milizen, außer Kontrolle geratene „Sicherheitsdienste“ und kriminelle Banden treiben vielerorts ihr Unwesen. Das Gewaltmonopol der palästinensischen Behörden wiederherzustellen ist jedoch aussichtslos, solange die israelische Okkupationsmacht der palästinensischen Polizei das Tragen von Waffen verbietet und durch vielfache Bewegungseinschränkungen Ordnungskräfte und Justiz funktionsunfähig macht.
Auch zur Verbesserung der katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Lage in den besetzten Gebieten ist Abbas auf Zugeständnisse Israels angewiesen. In den Palästinensergebieten herrschen mehr als 60 Prozent Arbeitslosigkeit, mehr als die Hälfte der Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze von zwei Dollar pro Tag. Erst kürzlich hat die Weltbank die internationale Gebergemeinschaft vor Investitionen in Palästina gewarnt: Solange israelische Straßenkontrollen und -blockaden jede ökonomische Entwicklung strangulieren und militärische Einmärsche des israelischen Militärs immer wieder die palästinensische Infrastruktur schädigen, drohen sich auch zukünftige internationale Finanzzuwendungen als Fehlinvestitionen zu erweisen.
Es gibt allerdings auch Reformen, die Abbas im eigenen Lager durchführen kann, ohne auf israelische Hilfe angewiesen zu sein: Wie ernst er es mit dem Kampf gegen Korruption und Misswirtschaft – vor allem seiner Fatah-Kollegen – meint, wird die nächste Kabinettsumbildung und die Reform der Sicherheitsdienste zeigen. Innerhalb von Fatah drängt die „Junge Garde“ auf Einfluss und möchte endlich die überalterte „Alte Grade“ aus Arafat-Loyalisten und alten Kämpfern aus dem tunesischen Exil ablösen.
Entgegen den Erwartungen vieler ist es Abbas gelungen, eine weitgehend geschlossene Fatah in diesen Präsidentschaftswahlkampf zu führen. Doch die politischen Auseinandersetzungen und persönlichen Rivalitäten sind nur vorläufig eingefroren. Die Kandidatenaufstellung für die im Juli vorgesehenen Parlamentswahlen, spätestens jedoch der Fatah-Kongress im August werden die innerparteilichen Kräfteverhältnisse klären und Aufschluss darüber geben, ob der Palästinenserpräsident diese Auseinandersetzungen in demokratische Bahnen lenken kann und ihm der Transformationsprozess der Fatah von einer Widerstandsbewegung zu einer politischen Partei gelingt.
Zur erhofften inneren Befriedung gehört aber auch ein Arrangement vor allem mit den militanten Gruppen. Hier sind erste Erfolge sichtbar. Hamas hat erkennen lassen, dass sie mit der neuen palästinensischen Führung zusammenarbeiten und sich in die vorstaatlichen Strukturen Palästinas durch Teilnahme an den bevorstehenden Wahlen auf lokaler und nationaler Ebene integrieren will.
Auch zu einem Waffenstillstand sind die militanten islamistischen Organisationen bereit, nachdem Israel endlich signalisiert hat, zumindest vorerst auf eine Fortsetzung der außergerichtlichen Hinrichtungen von vermeintlichen Terroristen zu verzichten. Schon einmal – im Sommer 2003 – hatte Abbas als Ministerpräsident einen ähnlich fragilen Waffenstillstand erreicht, der dann jedoch von der israelischen Regierung durch die Liquidierung eines prominenten Hamas-Führers gebrochen wurde.
Die Wahl von Mahmud Abbas ist vor allem ein Angebot der Palästinenser an Israel. Zweifel an der israelischen Verhandlungsbereitschaft sind durchaus angebracht, denn bislang hat das nahöstliche Tauwetter auf der israelischen Seite nur zu einer verbindlicheren Rhetorik und unverbindlichen Gesten geführt. Eine Bereitschaft zu substanziellen Zugeständnissen ist bisher nicht erkennbar.
Während die neue palästinensische Führung zielstrebig die ihr auferlegten Verpflichtungen aus der ersten Phase der Roadmap abarbeitet, ist Israel noch nicht einmal zu einer Rückkehr auf die Positionen vor Ausbruch der zweiten Intifada im September 2000 bereit. Von der Erfüllung anderer Verpflichtungen aus der Roadmap ganz zu schweigen, etwa dem Einfrieren der Siedlungstätigkeit, der Auflösung der illegalen Siedlungsableger und der Verbesserung der Lebensbedingungen für die Palästinenser etwa durch Reduzierung der Straßenkontrollen und -sperren. Auch in den für kommenden Dienstag geplanten Gesprächen zwischen Abbas und Scharon sollen lediglich sicherheitspolitische Fragen erörtert werden und nicht etwa Verhandlungen über den Rückzug aus dem Gaza-Streifen oder gar über eine Endstatus-Regelung.
Es gibt auchReformen, die Abbas im eigenen Lager durchführen kann
Die Erklärungen und Zugeständnisse der vergangenen Wochen sind also kein Anlass zu Euphorie, sondern bestenfalls zu Hoffnung. Hoffnung, dass die unilaterale Logik von Scharons Rückzugsplans entgegen seinen Intentionen eine politische Dynamik auslöst, die zur Roadmap führt, also zu einer Beendigung der Besatzung auch im Westjordanland und der Gründung eines lebensfähigen palästinensischen Staates. Trotzig, weil Israel im Schatten der Auseinandersetzungen über den Gaza-Rückzugsplan die völkerrechtswidrigen Siedlungen im Westjordanland weiter ausbaut, den Bau der Trennungsmauer forciert, fast täglich palästinensisches Land beschlagnahmt und palästinensische Häuser zerstört, kurz, die Politik ethnischer Trennung vorantreibt.
Es ist also keineswegs sicher, dass bald eine Friedensregelung gefunden wird – im Gegenteil. Sehr schnell könnte es für einen Frieden zu spät sein und nichts mehr zu verhandeln geben. Wenn die internationale Gemeinschaft weiter tatenlos zusieht, wie die israelische Regierung Tatsachen schafft, dann wird der Gaza-Streifen nach dem Rückzug aufgrund der fortbestehenden vollständigen israelischen Kontrolle das größte Freiluftgefängnis der Welt sein und das Westjordanland ein Gebiet, in dem sich hinter Mauern und Zäunen Palästinenser mit israelischer Genehmigung nur auf ihnen vorbehaltenen Straßen bewegen dürfen. Ein lebensfähiger palästinensischer Staat rückt in immer weitere Ferne. Das palästinensische Angebot einer friedlichen Regelung hat somit ein nicht allzu fernes Verfallsdatum.
CHRISTIAN STERZING