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Archiv-Artikel

Ferne Klänge vom Glück

OBERTÖNE Michael Ebmeyers Roman „Der Neuling“ ist eine leise, aber leidenschaftliche Hommage an die Kraft der Musik und an Sibirien

Dieses Buch ist nicht ohne Risiko. Denn gewagt ist zweifelsohne, es als Autor mit der berauschenden Wirkung der Musik aufnehmen zu wollen. Michael Ebmeyer, Jahrgang 1973, wird sich der möglichen Fallhöhe zwischen Wort und Klang bewusst sein, und wohl gerade deshalb wählt er für seinen Roman „Der Neuling“, dem eine ganz und gar außergewöhnliche Musik zum Movens wird, einen Protagonisten, wie er prosaischer kaum sein kann. Matthias Bleuel ist Logistiker bei einem Stuttgarter Modeversandhaus, nach acht kinderlosen Ehejahren frisch und unfreiwillig geschieden, sein Temperament und der Inhalt seines Kleiderschranks dürften nur graduell abweichen vom blassgrauen Schutzumschlag des Buches, dessen Protagonist er ist.

In diese Mediokrität scheint sich der Auftrag einzufügen, mit dem Bleuel von seinem alternden Chef auf Dienstreise geschickt wird. Er soll in der sibirischen Provinzstadt Kemerowo einer Filiale des Versandhauses eine Urkunde für besonders erfolgreiche Geschäfte verleihen. Was nach Verbannung klingen könnte, wird zu einem Erweckungserlebnis. Oder aber, so mag, wer will, es auch lesen, zu einem Trip in die Verblendung.

Nachdem Bleuel mehr schlecht als recht das Überbringen der Urkunde hinter sich gebracht hat, hört er auf einem Sommerfest das Unfassbare: die schamanische Sängerin Ak Torgu, die ihn mit ihrem aus allen Hörgewohnheiten und aus aller Gegenwart herausfallendem Oberton-Gesang durch Mark und Bein und alle Sinne fährt. „Mein Gemüt ist zornig, nehmt euch in Acht / Kommt mir nicht zu nah“, singt Ak Torgu im „Lied der Wölfin“, von dem Bleuel anfangs nicht mehr als den Klang vernehmen kann, das ihm aber wie eine mythische Infusion in den Körper schießt.

Und aus dem Stuttgarter Logistiker, der mit der eigenen Verzagtheit zu hadern hat, wird ein Getriebener, der nur das eine will: diese Frau und das Versprechen auf ein neues Leben, das er in ihrem Gesang zu hören meint. Dafür ist er bereit, alle Brücken zur Vergangenheit abzubrechen. Begleitet und zunehmend mit Erstaunen zur Kenntnis genommen wird dieser Wandel von Bleuels Dolmetscher Artjom. Wie in seinem Romandebüt „Plüsch“ hat Ebmeyer hier ein ungleiches Pärchen geschaffen, das allerdings nur die zwei Seiten dessen illustriert, wie man mit Desillusionierung umgehen kann. Weiß doch der vorwitzige Artjom, vermeintlicher Konterpart von Bleuel, durch sein Geplapper allenfalls notdürftig seine eigene Resignation zu überdecken. Das Konsequente wie wunderbar Melancholische an Ebmeyers Erzählung nämlich ist, dass die eigentliche Trostlosigkeit des sibirischen Alltags – städtebauliche Ödnis, Schwulenfeindlichkeit, Perspektivlosigkeit – den Text stets grundiert, so dass Bleuel mit seiner plötzlichen Emphase allein dasteht. Den Ort, der so weit vom Meer entfernt ist wie kein anderer, nennt Artjom seine Heimatstadt.

Streiten hingegen kann man über die Konsequenz, mit der Ebmeyer seinen Protagonisten mit allen Attributen des linkischen Spießers versieht. Natürlich wird auf diese Weise die fast märchenhafte Dimension des Romans nachdrücklicher – denn tatsächlich wird Bleuel der magischen Sängerin näher kommen, als er selbst und mit ihm der Leser dies zunächst wird glauben mögen. Die berauschende Kraft ihrer Musik – die übrigens ihr reales Vorbild in den Liedern der sibirischen Sängerin Tschyltys hat – hätte aber vermutlich auch funktioniert, wenn der Kontrast nicht so scharf gewählt wäre.

Ob sich das Risiko des Logistikers Bleuel, der nichts als seine Liebe in die Wagschale zu werfen hat, am Ende lohnt, bleibt ungewiss. Gerade aber, dass Ebmeyer seine Geschichte in der Schwebe belässt, irgendwo zwischen Euphorie und nahender Depression, verleiht seinem Roman eine Strahlkraft, der das Staunen über das Fremde immer eingeschrieben bleibt. Denn wie sein Protagonist will der Autor es nicht aufnehmen mit der Musik, sondern sich von ihr treiben und bezaubern lassen. WIEBKE POROMBKA

■ Michael Ebmeyer: „Der Neuling“. Kein & Aber, Zürich 2009, 288 Seiten, 19,90 €