Europas Formfabrik

Der Gegenentwurf zur MoMA-Ausstellung: Die Neue Nationalgalerie in Berlin musste erst einmal den Teppich reparieren, um schließlich einen europäisch orientierten Kunstkanon aus dem 20. Jahrhundert zeigen zu können – „Gegenwelten“

VON MARKUS WOELLER

Im Sommer sah es nicht danach aus, als ob nach der MoMA-Ausstellung noch etwas kommen könnte. Nach dem Auszug der Kunstwerke aus der Neuen Nationalgalerie musste dann auch erst mal der Teppichboden raus, durchgelaufen von hunderttausenden kunst- und spektakelbeflissener Sohlen. Erst die Raumpflege, dann die Inhalte. Inzwischen antwortet die Nationalgalerie aber schließlich doch auf den amerikanisch dominierten Kanon – mit einem Gegenentwurf, der verstärkt Positionen deutscher Kunst des 20. Jahrhunderts in den Mittelpunkt rückt.

„Gegenwelten“ empfängt die Besucher mit Hauptwerken von Joseph Beuys. Die „Richtkräfte“ teilen sich mit dem „Ende des 20. Jahrhunderts“ die Halle. Dazu läuft die Endlosschleife des Tondokuments „Ja Ja Ja Nee Nee Nee“. Gemeinsam mit den umstehenden Objektvitrinen beschwören die Installationen aus bekritzelten Schultafeln und mit ringförmigen Ausfräsungen gekennzeichneten Steinblöcken Beuys’ Idee von der ganzheitlichen Sozialplastik.

Alte Bekannte aus dem Hamburger Bahnhof, der für die Flick Collection geräumt wurde, gruppieren sich dazu. Warhol natürlich. Und Anselm Kiefers Bleiflugzeug „Mohn und Gedächtnis“ muss sich nun zwischen Raufasertapete und Auslegeware behaupten. Die Platz verdrängenden Großausstellungen haben damit bisher ungeahnte Möglichkeiten geschaffen, Kunstwerke wieder in neuen Raum- und Sinnzusammenhängen zu zeigen und die Sammlungen von Marx, Marzona, Flick und van de Loo zu durchmischen.

Beuys und Kiefer setzen den Angelpunkt für den klassisch-chronologischen Rundgang durch die Sammlung der Nationalgalerie. Dieser beginnt mit Curt Stoevings Bildnis des kranken Nietzsche, der zwischen Blumentöpfen und grünem Rankwerk der Zukunft entgegendämmert. Hodler und Munch ästhetisieren die Moderne eines Jugendstils, der in den Drucken von Fidus und anderen Illustratoren der Lebensreformbewegung bereits einen Vorgeschmack auf den Körper- und Gesundheitskult der Nazis bereitet. Die großen drei Sachlichen Dix, Grosz und Beckmann bestreiten das Welttheater der Zwanzigerjahre. Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs werden aber auch in ganz handfesten Exponaten deutlich: Prothesen des Charité-Chirurgen Sauerbruch aus den Beständen des Kunstgewerbemuseums. Aber die Zeit zwischen den Kriegen war ja auch Formfabrik, und Dada und Bauhaus definierten die Gestalt der Weimarer Republik.

Eine kleine Bronzemaske von Julio González markiert ebenso bescheiden wie eindrucksvoll den Einschnitt des Kriegs. „Schreiende Montserrat“ entstand unter dem Einfluss des Spanischen Bürgerkriegs.

Auswege zur Überwindung des Schreckens finden die Künstler beiderseits des Atlantiks in der Abstraktion. In Amerika versucht die bildende Kunst durch Purismus und Minimalismus einer neuen Erhabenheit näher zu kommen. Art brut und Arte povera in Europa betonen den Handlungscharakter der Kunst und arbeiten sich mit dem Material ab. In den Siebzigerjahren beherrscht dann die Concept Art die westliche Kunstzivilisation. Handlungsanweisungen, Zahlenkolonnen und Aktionsbeschreibungen füllen dicht an dicht einen Archiv genannten Raum – kommentarlos und unzugänglich. Gerhard Richter und Sigmar Polke arbeiten gleichermaßen konzeptuell, erscheinen aber visuell eindrucksvoll oder humoriger. Während Richter sich mit der Malerei an sich beschäftigt, kämpft Polke an der Ironiefront. Mit ihnen endet der Galopp durch die Kunstgeschichte der letzten hundert Jahre. Bleibt nur noch die DDR-Kunst. Unnötig separiert flankieren Tübkes und Heisigs Historienmalereien Neo Rauchs Neo-Surrealismus.

Einen Kanon aus deutscher Sicht nach dem Ende der Retrospektive des Museum of Modern Art in die Hallen der Neuen Nationalgalerie zu projizieren war der kuratorische Anspruch der Ausstellung „Gegenwelten“. Kanonisch ist die Schau geworden, gleichermaßen in der Auswahl vieler Highlights aus der umfangreichen Sammlung wie in der Aussparung künstlerischer Aus-, Um- und Gegenwege. Eine deutsche Gegenwelt zum amerikanischen Status quo? Zum Abschied nölt noch einmal Beuys’ „Ja Ja Nee Nee“ durch die Halle und trifft das Nationalgefühl aktueller denn je: gedankenlose Zustimmung und gleichzeitig nörgelnde Ablehnung.

Neue Nationalgalerie, Berlin, bis 22. 5.