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Archiv-Artikel

Besonders gelungene Albträume

Leonora Carrington gilt als große alte Dame des Surrealismus. Ein Etikett, das der 87-Jährigen so wenig behagt wie jedes andere. Ein Hausbesuch in Mexiko-Stadt

VON ANNE HUFFSCHMID

„Was?“, sie zieht die Augenbrauen hoch, „Sie kennen dieses Spiel nicht?“ Dass sie dabei verächtlich schnaubt, bilde ich mir vermutlich nur ein. Doch man wird ganz klein unter diesem Blick. Prüfend, höflich, aber auf das Äußerste reserviert. Dabei ist sie selbst von kleiner Gestalt, eher zäh als zart, das schmale Gesicht ist vom hochgesteckten Silberhaar gerahmt. Leonora Carrington, in lila Wollpulli und grauer Jogginghose, nimmt eine weitere Zigarette aus dem geblümten Etui.

Ein Mikrofon, das ginge zu weit. „I won’t talk to a thing like that!“ Dass sie mich überhaupt über ihre Türschwelle gelassen hat, habe ich ihrem Sohn Pablo zu verdanken. Der ist aus den USA zu Besuch und hat Aquarelle, die er teilweise gemeinsam mit seiner Mutter gemalt hat, für eine kleine Ausstellung mitgebracht. Leonora will ein wenig der öffentlichen Neugierde auf ihn umlenken. Sonst hält sie Interviews für eine Zeitverschwendung: „Mich kenne ich ja schon.“ So lösen sich die zurechtgelegten Fragen im Nu in Luft auf, auch zum Notieren bleibt keine Zeit. Schon den Namen der Besucherin mag sie sich nicht merken. „Ich nenne Sie jetzt einfach Trudy“, sagt sie, lehnt sich im Schaukelstuhl zurück und schaut mich herausfordernd an. In ihrem Schoß liegt eine fette goldene Siamkatze. Wir sitzen im Kellergeschoss ihres Häuschens in der Colonia Roma, einem der urigen Kieze in der wuchernden Megalopolis, drum herum altmodische Lädchen, verkramte Kioske und leicht heruntergekommene Bürgerhäuser. Seit mehr als einem halben Jahrhundert ist die heute 87-Jährige hier zu Hause.

Cadavres exquis heißt das Spiel, das die Surrealisten offenbar gern gespielt haben und das wohl wirklich ein jeder aus seiner Kindheit kennt. Das aber fällt mir erst ein, als Pablo Weisz – ein beleibter Mittfünfziger mit schwarzem Schnurbart und fröhlichen Augen – ein Blatt Papier auf den Holztisch legt, einen Streifen davon faltet und Stifte verteilt. Oha, denke ich, jetzt wird es ernst. Ich soll mit Leonora Carrington zusammen ein Bild malen. Es gibt kein Zurück, alle kritzeln nacheinander, heraus kommt ein Krakelwesen mit Krähenkopf, prallem Busen, Schlangenrock und einem Krallenfuß. Wir anderen lachen, Carringtons Blick bleibt undurchdringlich. Es sind noch dieselben Augen wie auf den alten Fotos, als brünette Zwanzigjährige mit wilder Mähne und voll entschlossener Schönheit.

„Was sehen Sie hier?“, fragt sie und streckt mir ihre sehnige Hand hin. Oha, schon wieder ein Test. Was um Himmels willen wäre eine intelligente Antwort? Das Hirn rattert ein wenig, dann gebe ich auf. „Eine Hand“, sage ich. „Genau“, antwortet sie, die Stimme klingt eine Spur amüsiert. „Und wer sieht?“ Das also ist die Kernfrage. Schließlich sind wir, meint Carrington, heute nicht die, die wir morgen sein werden, nicht einer, sondern viele Menschen. „Wer oder was malt also?“ Sie zuckt die Schultern. „Keine Ahnung, ich jedenfalls bin nur die Übersetzerin.“ Denken muss man sich das als eine Art Arbeitsteilung: Die eine träumt, die andere malt, eine Dritte kommuniziert mit der Welt. Die Kunst kann uns helfen, diese Persönlichkeiten zu versöhnen.

Für Weisz ist dies die Versöhnung zwischen „Bewusstsein und Unterbewusstsein“, doch derlei Erklärungen findet die Mutter „viel zu psychoanalytisch“. Daher ist ihr auch die Schublade des Surrealismus, der alles auf die Produktivkraft des Unbewussten zurückführt, zu eng. Für sie gibt es kein Subjekt hinter den künstlerischen Entscheidungen, weder bewusst noch unbewusst. „It decides you.“ Wo das Es herkommt, kümmert sie wenig: „The mind is such a strange thing.“

Ein Schlüssel zu dieser Strangeness ist die Religion, in ihrem ursprünglichem, suchenden Sinne, nicht als entfremdeter Ritus wie in den christlichen Institutionen. Deshalb hat sie vor Jahrzehnten begonnen, andere religiöse Denksysteme und Kulturen zu studieren – die Kabbala, die keltischen Mythen, die mittelalterliche Alchimie, die ägyptische Gnostik, den tibetanischen Buddhismus („Wenn man davon absieht, dass sie keine Frauen mögen, ist das eine nette Religion“) und auch die Jung’schen Archetypen.

Aus diesen Quellen, vor allem aber aus ihren nächtlichen Traumreisen, speisen sich die Bilder. Es sind ätherische Landschaften, in denen das Unsichtbare und Verborgene Gestalt annimmt, bevölkert von zartfüßigen und spitzköpfigen Fabel- und Zwitterwesen, Enten und Fischen, Pferden, Eulen oder Krokodilen, sich unterm Nachthimmel küssenden Bären, Reitern in wehenden Umhängen und immer wieder alten Frauen in wallenden Gewändern. Alle sind sie in gespenstischen Tableaus arrangiert, die zugleich etwas Schwebendes und Verspieltes haben, schaurig und amüsant wie ein besonders gelungener Albtraum. Immer ist Nacht oder Zwielicht auf diesen Bildern, nicht selten muten sie eigentümlich vertraut an – womöglich aus eigenen Träumen?

Das Label eines „esoterischen Feminismus“, das Carrington in kunstkundigen Abhandlungen zuweilen zuteil wird, will nicht recht passen. Das Pathos der Auserwählten oder Eingeweihten ist ihr fremd, ihr Werk ist frei von New-Age-Kitsch und ihr fehlt vor allem die Humorlosigkeit, die spirituell berufenen Künstlern so häufig zu Eigen ist. „Ironische Zauberei“ hat der Schriftsteller Carlos Fuentes ihr Schaffen einmal, viel treffender, genannt. Sie setzt behauptete Ordnungen außer Kraft, etwa die Grenzen zwischen Ratio und Mystik und verbindet Schrecken mit Humor, Intellekt mit Imagination.

Während die Mutter mit Haut und Haar in ihre Traumwelten abtaucht, bewegt sich der Sohn im Grenzland zwischen Realität und Fantasterei. Seine Arbeiten, wiewohl auch von fantastischen Wesen wie geflügelten Pferden und gefiederten Schlangen bevölkert, wirken realer, auch analytischer.

Sein Leben verdient Pablo Weisz als klinischer Pathologe in Richmond, das Bildermachen ist ein Werkzeug des täglichen Überlebens. Was beides mit einander zu tun habe? Nicht viel, höchstens das „Zerlegen von Körpern“. Und dann gebe es noch einen Grund: Er träume nachts kaum, und das könne einem schließlich „nicht beigebracht werden“. Seine Mutter, glaubt er, male insgesamt weiblicher, intuitiver. „Doch damit bist du natürlich nicht einverstanden“, sagt er und lächelt ihr zu.

Oh nein, das ist sie nicht. „Männlich und weiblich haben nichts mit Malerei zu tun“, sagt sie knapp und zieht an ihrer Zigarette. Dass Frauen in ihrem Tun permanent beschnitten werden, davon ist sie allerdings überzeugt, seit Jahrzehnten ist sie bei jeder Kampagne für Frauenrechte dabei. Das Surreale wird bei Malerinnen, etwa der berühmten Frida Kahlo, oft mit Leiden und Selbstmitleid verknüpft. Hingegen ist die ästhetische Triebkraft der britischen Femme terrible eher der Zorn, wie die mexikanische Feministin Elena Urrutia schreibt. „Es gibt einen versteckten Kern“, hatte Leonora einmal zu ihr gesagt, „der wütend wird, und den Männern macht es eine Heidenangst, wenn diese Wut sich auszudrücken versteht.“

Langsam wird es wärmer im Keller. Nebenan wird das Abendessen bereitet, wir sitzen auf der Bank gegenüber dem bauchigen, alten Ofen und rauchen. Pablo ruft, es gibt Quesadillas am runden Küchentisch. Schlurfende Schritte sind zu hören, ganz langsam kommt „Chiki“ die Treppe herunter, ein Hausmädchen stützt den fast Neunzigjährigen, der kaum noch sieht und hört. Fast sechzig Jahre lang war er der Mann an ihrer Seite, heute pflegt Leonora den gebrechlichen Greis, schneidet seine Teigtasche in kleine Stücken und spricht zu ihm in holprigem Alltagsspanisch. Das tue sie auch, so die beiläufige Erklärung, aus Rücksicht auf die empleada, die mexikanische Hausangestellte. Da ist sie wieder, denke ich, ganz die Lady. Wie vor ein paar Jahren im Supermarkt in der Nachbarschaft, als ich sie zum ersten Mal sah. Mit mürrischer Mine schob die kleine alte Dame ihren Wagen durch die Regale, würdevoll, ganz ohne empleada. Und das in einem Land, wo jeder, der es sich irgend leisten kann, derlei Gänge von Dienstboten verrichten lässt. Gebannt starrte ich ihr damals hinterher. Sie anzusprechen wäre mir nie in den Sinn gekommen.

Die Siamkatze schleicht hungrig um uns herum. Zum Kaffee gibt es Kekse, dann wieder die obligatorische Zigarette. Feuer lässt sie sich nur ungern geben: „I like to control my own smoking.“ Als ich frage, ob beide stolz aufeinander sind, erhebt sich Leonora, murmelt etwas von „gleich wieder da“ und verlässt den Raum. „Sie mag keine Komplimente“, lacht Pablo. Stolzer als er könne man nicht auf eine Mutter sein, auf ihre Freiheit, ihre straightness. „No bullshit“. Kein Stolz, wehrt sie ab, als sie wieder in ihrem hölzernen Schaukelstuhl sitzt, nur „Liebe und Kommunikation“. Es gibt so viele Arten des Liebens. Als eine junge Reporterin sie vor ein paar Jahren zum Valentinstag fragte, wie sie es mit der romantischen Liebe halte, hat Carrington der Zeitungsnotiz zufolge geantwortet: „Das ist so, als ob Sie mich fragen, was ich vom Ballspielen im Park halte. Ich mache das nicht mehr. Und es ist so lange her, dass ich mich nicht erinnere“.

Den Namen der Besucherin hat sie sich nun gemerkt. „And I will still think of you as Trudy“, sagt sie zum Abschied.

Anne Huffschmid, 40, berichtete für die taz zehn Jahre lang aus Mexiko. Nun lebt sie wieder in Berlin. Den Namen Trudy findet sie inzwischen gar nicht mehr so schlecht