„Thumbsucker“ im Wettbewerb

Der unaufdringlich harmonistische, sozusagen Aloe-Vera-mäßig ausbalancierte amerikanische Kleinstadt- und Familienfilm „Thumbsucker“ von Mike Mills erzählt vom Daumenlutschen und anderen Süchten. Sie sind Teil einer Skizze davon, wie schwierig es doch ist, erwachsen zu werden, also halbwegs souverän im Umgang mit sich selbst und diesen ganzen Stimmungen, Wünschen, ja auch Talenten.

Es handelt sich um den ersten Spielfilm von Mike Mills. Mills hatte zuvor Werbung und Musikvideos u. a. für Air, Moby und Frank Black gemacht. Der Held, Justin, ein schmächtiger, hübscher, etwas mädchenhafter 17-Jähriger (Lou Pucci), lebt behütet in einer Familie der oberen Mittelklasse. Die Eltern lassen sich mit Vornamen anreden, sonst kämen sie sich so furchtbar alt vor. Papa Mike ist Anfang 40, leitet ein großes Sportartikelgeschäft und hat eine vielversprechende Footballkarriere wegen einer Knieverletzung aufgeben müssen. Justins Mutter (Tilda Swinton) ist auf der Suche nach sich selber – wie alle Protagonisten des Films, abgesehen vom kleinen Bruder, der daran leidet, so furchtbar normal zu sein. Ab und an flüchtet sie sich in eine durch Unsicherheit anrührende Begeisterung für einen wunderbar windigen TV-Star, dem sie später, auf ihrer Arbeit in einer Suchtklinik für Promis, begegnen wird.

Justin ist ein bisschen schüchtern und unsicher. Wenn er sich gestresst fühlt, lutscht er an seinem Daumen. Man denkt gleich an Linus, nur sieht das hier obszöner aus. Das Lutschobjekt bleibt aber unbeschädigt. So richtig pathologisch wird es also nicht. Im Presseheft steht, er tue das, weil er wie sein Vater Angst habe, den Vorstellungen seiner Mutter nicht genügen zu können. Das glaube ich aber nicht und würde eher dem posthippiesken Kieferorthopäden von Justin (Keanu Reeves ist in seiner ersten Post-Matrix-Rolle ganz Klasse) zustimmen, der gegen Ende des Films sagt, das Daumenlutschen sei doch eine ganz vernünftige Strategie gewesen, mit dem ganz normalen Teenagerstress klarzukommen. Am Anfang jeder Sucht steht ja ohnehin wohl der missglückte Abschied von der Mutterbrust. Weil das Rauchen als Mittel oralen Stressausgleichs heute nicht mehr so selbstverständlich ist, wird vielleicht wieder mehr zum Daumen gegriffen, denkt man sich so als Hobbypsychologe und erwägt, das Rauchen vielleicht wieder durchs Daumenlutschen zu ersetzen.

Mit verschiedenen Methoden wird jedenfalls versucht, Justin von seiner Obsession zu befreien. Er kann aber davon nicht lassen, selbst nachdem der Vater seine Initialen auf den Daumen des Sohnes geschrieben hatte. Später lernt er auch Marihuana und Sex kennen, doch am Ende wird alles gut.

Vieles geschieht in diesem Film ein bisschen zu bruchlos, dennoch ist „Thumbsucker“ ein schöner Film, der gerade in Details glaubhaft und mit viel Sympathie vom Leiden amerikanischer Teenager erzählt.

DETLEF KUHLBRODT

„Thumbsucker“, 12. 2., 9.30 und 21 Uhr, Urania