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Archiv-Artikel

„Wir brauchen mehr Geld für die Pflege“, sagt Irmingard Schewe-Gerigk

Die „Seniorenresidenz im Grünen“ muss nicht sein. Dringend auf die Agenda muss eine Reform der Pflegeversicherung

taz: Frau Schewe-Gerigk, Sie veranstalten heute eine Konferenz über „Wohnformen im Alter“. Seit wann ist Wohnen ein politisches Thema? Kann man alten Menschen das Wohnen nicht wie jede Konsumentscheidung selbst überlassen?

Irmingard Schewe-Gerigk: Über neunzig Prozent der 50- bis 70-Jährigen sagen, sie wollen nicht ins Heim. Und doch ist das Heim für viele die einzige Möglichkeit, den Lebensabend zu verbringen. Da muss Politik handeln, und deshalb haben wir Grünen uns die Wohnformen als erstes großes Thema einer Konferenzreihe zum Thema „Alternde Gesellschaft“ vorgenommen. Die Menschen sollen erfahren, dass es längst eine vielfältige Landschaft von Wohnprojekten, Haus- und Wohngemeinschaften gibt, die ein selbstbestimmtes Wohnen im Alter ermöglicht. Die WG des Bremer Bürgermeisters Henning Scherf ist da ein prominentes Beispiel.

So etwas wird Ausnahme bleiben. Heutzutage sagen doch schon 25-Jährige, sie seien zu alt für eine WG, und ziehen sich in die Ein- oder Zwei-Zimmer-Wohnung zurück. Werden Menschen mit jedem Lebensjahr unverträglicher?

Das sehe ich nicht so. Wir reden hier ja auch nicht von Studi-WGs mit Ärger über die schmutzige Badewanne, sondern über Wohnformen mit käuflichen Service- und Pflegeleistungen, die auch preiswerter sind als die Rundumversorgung im Heim. Im übrigen ist nachgewiesen, dass Wohnformen, die die Selbstständigkeit erhalten, auch die Pflegebedürftigkeit aufschieben. Die „Seniorenresidenz am Waldrand“ wollen viele nicht. Alte Leute wollen mitten in der Gesellschaft leben. Damit sie das besser können, wünsche ich mir, dass das Seniorenministerium einmal sämtliche schon existente Projekte erfasst und hierzu Informationen aufbereitet.

Gehören solche hübschen Konferenzen jetzt zum rot-grünen Programm der Wohlfühldiskussionen ohne konkrete Folgen? Wie sehen denn die Konzepte der Regierung für die Reform der Pflegeversicherung aus – schließlich sind die Pflegekassen 2006 leer?

Sie wissen, dass die Grünen ihren Koalitionspartner drängen, sich in der Pflege vor der Bundestagswahl 2006 noch einmal zu bewegen. Wir wollen in diesem Jahr ein Gesamtkonzept zum Thema „Alternde Gesellschaft und Pflege“ gemeinsam diskutieren und dann Ende des Jahres noch einmal die Notwendigkeit einer Pflegereform ausloten. Die Anzahl der Demenzkranken steigt, die keine Leistungen aus der Pflegeversicherung bekommen. Die Experten haben nachgerechnet, dass wir bis 2020 rund 550.000 neue Pflegeplätze brauchen werden. Das kostet Geld. Dass da etwas passieren muss, ist klar.

Trotzdem klebt die Regierung an einem Pflegebeitragssatz von 1,7 Prozent vom Bruttolohn und scheut aus Angst vor den Arbeitgebern jede Debatte über Kosten-, also Einnahmensteigerung. Dabei lassen sich gerade in der Pflege und Altenbetreuung hunderttausende Arbeitsplätze schaffen …

Für die Pflege werden wir künftig noch viel mehr Geld benötigen. Deshalb müssen wir auch darüber reden, ob man etwa in der Pflege eine BürgerInnenversicherung einrichtet, damit auch die Bessergestellten sich an den Pflegekosten der schlechter Gestellten beteiligen. Oder ob man Kranken- und Pflegeversicherung nicht zusammenlegt, um Reibungsverluste zu vermeiden. Oder ob man den Arbeitnehmern nicht nur Elternzeit zur Kinderbetreuung, sondern auch Pflegezeit zur Altenbetreuung einräumen müsste.

Das wird die Arbeitgeber aber gar nicht freuen. Haben Sie zu denen schon Kontakt aufgenommen?

Nein, es gibt ja noch keine Entscheidung.

Merkwürdig: Altern und Generationengerechtigkeit und demografischer Wandel sind nun seit zwei Jahren große Themen. Trotzdem tun alle so, als ginge es nicht um knallharte Interessenpolitik. Liegt das auch daran, dass die Pflege – etwa im Vergleich zu Ärzten und Pharma – keine ordentliche Lobbyarbeit macht?

Die Pflegeverbände sind nicht so gut organisiert wie die Pharma- und Ärztelobby. In jedem anderen Sozialbereich stehen sofort Verbände auf den Barrikaden, wenn Interessen etwa in den Bund-Länder-Reibereien unterzugehen drohen. Im Bereich der Pflege bleibt es aber leider oft zu ruhig.

Oder liegt es daran, dass mit dem Alter ein neues Sozialthema in einer Zeit auftaucht, da mehr Sozialinvestitionen als ausgeschlossen gelten – auch dank der rot-grünen Bemühungen um Sozialabbau?

Nein. Einen so stark veränderten Altersaufbau der Gesellschaft hat es noch nie gegeben. Darauf muss jeder verantwortungsvolle Politiker schon jetzt Antworten finden. Sonst bekommen wir tatsächlich den von manchen Autoren so populistisch beschworenen „Krieg der Generationen“.

INTERVIEW: ULRIKE WINKELMANN