: Tausche Police gegen Visum
Ein von Deutschland autorisierter Reiseschutzpass garantierte über Jahre hinweg praktisch die Einreise. Schleuser waren Schlüsselfiguren des Geschäfts
VON CHRISTIAN FÜLLER
Diese Aufgabe war neu. Als Beamte des Bundesaußenministers Joschka Fischer Ende 2002 Visaanfragen bearbeiteten, stießen sie auf ungewöhnliche Geschäftspartner. Manch einer der Staatsdiener mag so etwas wie Ekel empfunden haben. „Es dürfte doch wohl selbstverständlich sein“, schrieb eine Diplomatin empört, aber ohne letzte Gewissheit, „dass es sich bei einem Erotikclub nicht um eine seriöse Organisation zur Vermittlung von Reisen handeln kann.“
Selbstverständlich war indes am 27. November 2002 in der Visumpolitik gar nichts mehr. Unter Rot-Grün hatten Reiseversicherungen und Reiseschutzpässe, die teils direkt vor den ausländischen Botschaften verkauft wurden, einen enormen Einreisedruck ausgelöst. Diese Papiere, so geben die Beamten aller beteiligten Ressorts später vor Gericht zu Protokoll, galten praktisch „als Eintrittskarte in die Schengenstaaten“. Die Direktiven aus der Spitze des Auswärtigen Amtes erlaubten eine Drosselung der Einreise nicht ohne weiteres.
Also begann zwischen Innen- und Außenministerium eine muntere Korrespondenz über eine eigentümliche Frage: Kann ein mutmaßliches Bordell amtlich autorisiert werden, junge Ukrainerinnen einzuladen, zu versichern und ins Land zu holen?
Ein Erotikclub, meinte eine Konsulats-Beamtin misstrauisch, „klingt aber nicht besonders seriös“. Sollten etwa die Animierdamen selbst, fragte sie, mit den Reiseversicherungen ausgestattet werden? Ihr Kollege aus dem Auswärtigen Amt in Berlin ermahnte die Beamten aus dem Innenministerium mehrfach, doch behilflich zu sein, einen Erotikclub als Visabeantrager abzulehnen. „Ihre Einschätzung wäre uns hierzu aber sehr wichtig“, heißt es in dem E-Mail-Verkehr, der der taz vorliegt.
Die Episode vom November 2002 spielt auf dem Höhepunkt der Visa-Affäre, die seit gestern ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss unter die Lupe nimmt. Drei Monate später, Ende März 2003, wird Minister Fischer seine Ministerverantwortung wahrnehmen. Er beendet das mehr als zwei Jahre andauernde leichte Geschäft mit den Reiseschutzpässen. Auch dem Außenamt war die kriminelle Dimension der rot-grünen Einreisepolitik mit Schutzpässen klar geworden.
Mitte 2001 war es, als Otto Schilys Innenministerium seine Zustimmung zum Reiseschutzpass erteilte. Der Reiseschutzpass bekam deshalb überragende Bedeutung, weil er die Einreise kinderleicht machte. Touristen im Besitz eines Schutzpasses mussten weder einen Einladenden noch einen Bürgen vorweisen, der im Notfall für ihren Unterhalt aufkommt. „Die Vorlage eines Reiseschutzpasses“, so übereinstimmend die damit befassten Beamten, „war de facto gleichbedeutend mit der Erteilung des Visums.“ (siehe Kasten)
Das lag auch an den Verfahrenstipps, die Fischers Ministeriale an die Botschaften weiterreichten. „Die Tatsache allein, dass ein ausländischer Anbieter der Reiseschutzversicherung möglicherweise nicht das Vertrauen der örtlichen Auslandsvertretungen genießt, rechtfertigt daher keine Ablehnung.“ Mit diesen Worten ermahnte der zuständige Beamte am 19. Januar 2002 die Kollegen praktisch, es mit der Prüfung der Papiere nicht zu genau zu nehmen. Es entsprach dem politischen Ziel des nach dem damaligen Staatsminister im Auswärtigen Amt benannten „Volmer-Erlasses“, „im Zweifel für die Reisefreiheit“ zu entscheiden.
Die Folgen waren, so zeigen es die zur so genannten Sonderauswertung „Wostok“ (Osten) zusammengefassten Ermittlungen des Bundeskriminalamts, verheerend. Organisierte Banden bemächtigten sich schnell des Geschäfts mit den Reiseschutzpässen. Die Schleuser bekamen, wie es in einem Berichtsentwurf heißt, „die Logistik der Visaerschleichung völlig in ihre Hande“.
Für die rot-grüne Visumpolitik heißt das: Schleusen war nicht mehr, versteckte Menschentransporte in Lastwagen durchzuführen. Sondern es bestand darin – so erneut ein Beamtenbericht –, „Reiseschutzpässe in Minibussen hinter dem Generalkonsulat auszustellen“. Die Menschen konnten dann busladungsweise nach Deutschland gebracht werden und, mindestens zum Teil, „in unerlaubte und unterbezahlte Arbeitsverhältnisse vermittelt werden“ (Wostok-Bericht). Anders gesagt: Fischers und Volmers laxer Umgang mit Reiseschutzpässen hat Schleuser zu halbamtlichen Mitarbeitern der Botschaften gemacht.
Die Idee mit dem Reiseschutzpass hatte der Unternehmer Heinz Martin Kübler. Vertrieben wurde das Produkt laut BKA allerdings „von Personen und Firmen, zu denen bereits kriminalpolizeiliche Erkenntnisse – überwiegend wegen Schleusungsverdachts – vorliegen.“ Manche von ihnen sind mittlerweile verurteilt. Kübler selbst, gegen den das Landgericht Köln eine Anklageerhebung bislang ablehnte, lag wohl mehr an der Zahl als an der Seriösität seiner Vertriebspartner. „Ich will ein Produkt haben, an dem ich möglichst viel verdiene“, sagte er der taz.
Dass Joschka Fischers Beamte einen privaten Freizeitclub kritisch beäugten, ist nur zu verständlich. In gut dokumentierten Fällen wurden mit Hilfe des Reiseschutzpasses hunderte bis tausende ukrainische Frauen in Bordelle geschleust. Die Frauen landeten in Deutschland, in Spanien, auch die Route „Ukraine–Portugal“ wurde regelmäßig befahren.
Im Fall des vermeintlichen Erotikclubs allerdings wiesen Fischers Mitarbeiter die Visaanträge ab – und entschieden falsch. Denn der Einlader war nicht etwa Zuhälter, sondern ein deutscher Folklorefan. „Ich bin seit 1986 begeisterter Volkstänzer“, sagte er der taz. Die Frauen, die er – vergeblich – in sein im Bau befindliches multikulturelles Zentrum samt Freizeitclub einlud, war Ensemblemitglieder der Tanzschule im ukrainischen Lugansk.