Wenn Fairness zum Problem wird

Was für den einen Recht ist, kann dem anderen Leid bringen: Im Prozess kollidieren oft Verteidigerrechte und Opferschutz. Regularien gibt es nicht. Häufig ist der „Täter-Opfer-Ausgleich“ für beide Parteien sinnvoller als die „Konfliktverteidigung“

von Kai von Appen

Alle relevanten Fragen sind beantwortet. Und die Schilderungen des Opfers stimmen mit den Angaben diverser polizeilich vernommener Zeugen überein. Dennoch bohren die Verteidiger weiter: „Kann es nicht sein, dass es doch anders war?“ Dann der Tiefschlag: „Nehmen Sie Drogen?“ Die junge Frau bricht weinend zusammen. „Was wollen Sie von mir? Ich hab‘ doch nichts getan!“ A. war Opfer eines Polizeiübergriffs. Noch härter ergeht es B. Sie hatte einen Mann auf ein Glas Prosecco mit in ihre Wohnung genommen. Flirt ja, aber kein Sex. Doch er vergewaltigte sie. Im Verfahren fragt Verteidigerin Chistiane Yüksel eindringlich, ob nicht doch „Freiwilligkeit“ vorgelegen habe: „Hatten Sie einen Orgasmus?“

Yüksel rechtfertigt ihre so genannte „Konfliktverteidigung in diesem Fall“. Ihr Mandant habe die Tat bestritten, die Beweislage sei unklar gewesen. Es wäre „Heuchelei“, als Organ der Rechtspflege bei Sexualstraftaten andere Kriterien anzulegen, als wenn jemand nach einer Schlägerei ein Auge verloren hat. „Die Atmosphäre war aufgeheizt, und nicht einmal die Nebenklagevertreterin hatte die Frage zunächst beanstandet“, so Yüksel. Der Mann wurde dennoch zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt, im Revionsverfahren gestand er die Tat und bekam dafür Strafmilderung auf drei Jahre, da die Frau nicht aussagen musste.

Episoden aus der jüngsten Hamburger Justizgeschichte, die belegen, dass trotz aller Opferschutz-Diskussionen die Realität oft anders aussieht. Dabei hat selbst das Bundesverfassungsgericht den Maßstab aufgestellt, dass zur Aufklärung eines Sachverhalts nicht nur dem „Täter ein faires Verfahren“ garantiert werden muss, sondern sich die Justiz auch „schützend vor die Grundrechte der Verletzten zu stellen“ habe.

Doch im Prozess scheinen oft Verteidigerrechte und Opferschutz heftig zu kollidieren. „Im Prinzip hat der Verteidiger die Pflicht, alles herauszuholen“, sagt Hartmut Scharmer, Geschäftsführer der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer. „So etwas wie einen Verhaltenskodex gibt es nicht.“ Grenzen seien nur gesetzt, wenn die „Menschenwürde“ oder die „persönliche Integrität“ verletzt werde. „Doch das ist interpretierbar.“

Der Vorsitzende der Hamburger Strafverteidigervereinigung, Wolf-Dieter Reinhard, lehnt jegliche Selbstbeschränkung ab, da dadurch „die Rechte des Beschuldigten flöten“ gehen. „Die Inflation der Opferschutzrechte geht zu Lasten der Verteidigerrechte“, beklagt Reinhard. Alles, was der Aufklärung diene, sei auch zulässig. „Entscheidend ist doch, ob eine Frage für die Aufklärung von Bedeutung ist.“

„Konfliktverteidigung kommt vor, ist aber die Ausnahmen“, berichtet Zeugenbetreuerin Gerda Rose-Guddusch von ihren Erfahrungen. Es spräche nichts dagegen, „in der Sache alle Umstände ruhig, sachlich und fair zu hinterfragen“, sagt sie, „mit dem Opfer muss aber respektvoll umgegangen werden“. Wenn ein Verteidiger durch aggressive Wortwahl und rüpelhaftes Auftreten der Zeugin symbolisiert: „Ich glaube dir kein Wort“, werde „ein unheimlicher psychischer Druck erzeugt“, so Rose-Guddach: „Die Unschuldsvermutung gilt nicht nur für den Beschuldigten, die Unschuldsvermutung gilt auch für das Opfer.“

Für Ursula Ehrhardt – sowohl Strafverteidigerin als oft auch Nebenklagevertreterin – sind derartige Debatten kompliziert, „da Emotionen aufeinander prallen“. „Wenn die Frau gelöchert wird, dann dient es nicht der Aufklärung, sondern dazu, dass sie den Mund hält.“ Doch hält Ehrhardt nichts davon, über das „Vehikel Opferschutz“ Regularien zu schaffen, da die Instrumentarien der Richter ausreichten, um Fragen zu beanstanden. „Ich hätte bei der Orgasmus-Frage ein riesiges Theater gemacht, da sie unzulässig und unsachlich ist.“

Opferanwalt Rudolf von Bracken bleibt nur der Appell an die Strafverteidiger, „die Opferzeugen nicht durch konfrontative aggressive Befragungen persönlich zu schädigen“. Wenn absehbar sei, „dass das Opfer wirklich Opfer ist“, was in vielen Fällen für die Verteidigung auch zu erkennen ist, sollte ihr Ziel die Leidminderung sein.

„Seit 1. September 2004 sind Beschuldigte ausdrücklich auf die Option des Täter-Opfer-Ausgleichs hinzuweisen“, bekräftigt von Bracken. „Eine Konfliktverteidigung auf dem Rücken des Opfers kostet den Mandanten im Falle der Verurteilung Jahre.“