Papiergrauen

Von Eva Demski

Ich mag keine Zeitungen. Es graut mich vor ihnen, sie drängen sich ins Leben und gehen nicht mehr raus, kaum hat man sich ihrer entledigt, kommen neue, und das bis in Ewigkeit. Nur der Tod kann uns vor ihnen retten, endlich einmal kommt man selber drin vor, das wird einem dann aber egal sein. Haben Sie schon einmal versucht zuzugeben, daß Sie nicht gern Zeitung lesen? Man wird Sie behandeln, als röchen Sie merkwürdig.

Ein ernstzunehmendes Mitglied der Intellektuellenrepublik nimmt mit dem Kaffee etwa sechs Zeitungen zu sich und macht sich den Stand der Welt gleichsam mit einer Hand zu eigen – mit der zweiten löffelt er das Ei aus. Die Gesellschaft am Frühstückstisch besteht aus gesichtslosen, leise raschelnden Mumien, aus deren Papierumhüllung hin und wieder ablehnende oder bestätigende Laute dringen. Wenn ein Kind dabei ist, wird es angeblafft: Kannst du mich nicht in Ruhe Zeitung lesen lassen?

Zeitunglesen ist etwas zutiefst Erwachsenes. Kein Kind würde sich mit Zeug aus zweiter oder dritter, vierter, fünfter Hand abspeisen lassen. Kluge Erwachsene dagegen blättern sich allmorgendlich durch stinkendes und die Hände verschmutzendes Papier und haben danach eine Meinung. Zum vorderen Orient oder zu Frau Netrebko, zur Börse oder zur biologisch korrekten Vernichtung von Kakerlaken: Sie wissen Bescheid. Sie werden nicht in den Orient reisen, sie werden die Netrebko nie singen hören (und wenn sie ihr versehentlich im Radio begegnen, werden sie sie nicht erkennen ) – an der Börse haben sie nichts verloren und auch nichts gewonnen, und sie haben noch nie eine lebende Kakerlake gesehen – aber sie können sich an dem Tag geläufig mit anderen austauschen, die das gleiche wie sie gelesen haben.

Ich habe es immer gehaßt: gegen Mittag im Brustton ureigener Erkenntnis irgendwelchen Korrespondentenmüll serviert zu bekommen und, wenn ich dann blöd oder uninteressiert schaue, mit den Worten: Was, das haben Sie nicht gelesen?! an den Pranger gestellt zu werden. Zeitungsbelesene sind feige. Sie verstecken sich hinter den papierenen Popanzen der Leitartikler, Kritiker und der sogenannten anerkannten Sachverständigen, beten den ganzen Tag deren Hervorbringungen nach und sonnen sich im Bewußtsein, gutinformierte und welterfahrene Gesprächspartner zu sein.

Am schlimmsten wird es bei den beliebten Debatten. Alle paar Monate wird eine sogenannte Debatte erschaffen, gleichsam aus Staub. Vorher war überhaupt nichts da – und dann plötzlich, wie ein Sandsturm, die Debatte. Sie folgt einer bestimmten Choreographie und bringt die Laptops zum Glühen. In Wirklichkeit sind Debatten eine kühl kalkulierte und niemanden aus der Ruhe bringende Angelegenheit, es werden immer dieselben Figuren auf dem Papier gegeneinander gejagt, und nur ein paar pensionierte Studienräte kriegen Bluthochdruck und lassen ihn auf Leserbriefseiten ab. Debatten werden erfunden, damit die Zeitungsmacher eine Illusion von Nachhaltigkeit haben können, für ein paar Tage.

Das Allgemeine der Kunst gelte nicht dem Wahrheitsdiskurs, sondern der kommunen Zustimmung zu einem subjektiven Gefallen oder Gelingen. (FAZ, 8. 1. 05)

Ein solcher Satz ist nur mit der großen Trauer über die Vergänglichkeit alles Geschriebenen zu erklären. Tonnenschwer fallen sie ins unausweichliche Nichts, diese Sätze, ich verkneife mir, seitenweise zu zitieren. Ja, aller Text will Ewigkeit / Will tiefe, tiefe Ewigkeit. Und das jeden Tag, ein Kilo Papier Minimum, voll eherner Sätze, abgeschlossener Meinungsbildung und unbestechlicher Kunstkritik.

Wer soll das aushalten? Ich? Warum? Ich kann davon nur wenig am Tag verdauen und denke voll scheuen Elends daran, wie es sich staut und aufhäuft und wie ich dumm bleiben werde, weil die anderen das ganze Papiermenü zu sich genommen haben und ich noch nicht mal einen Leitartikel ganz verdaut habe.

Es ist eine sich täglich stumm steigernde Frustration, bei Schreibern wie bei Lesern. Die Schreiber pressen endgültige, unwiderlegbare Gedanken aus sich heraus, sie sammeln einmalige Meldungen und destillieren daraus Gewißheiten, linke, rechte, mittlere und manchmal nur dämliche. Wie auch immer: Nach wenigen Stunden liegt alles im Container. Früher wurde die Zeitung zerschnitten und an einen Nagel auf den Abtritt gehängt.

Der Leser, wenn er ehrlich ist, kann den täglich vor ihn hingeschütteten Reichtum doch gar nicht verkraften! Sein bis in die letzten Windungen gestopftes Hirn fällt in eine Starre, eine Wahrnehmungsstarre. Das tut es, um zu überleben. Jedenfalls ist das bei mir so, und ich kann nicht glauben, daß ich mit meiner Zeitungsaversion allein auf der Welt bin. Wo aber finde ich Gleichgesinnte? Nicht in meiner Umgebung jedenfalls, da nehmen die Menschen noch vor dem Mittagsläuten nicht nur FAZ und taz und NZZ und SZ zu sich, sondern auch noch französische oder englische Zeitungen, und mit dem letzten Schluck Vitaminsaft und dem letzten Bissen Körnerbrötchen ist auch die Welt samt Aktienlage und Wetterbericht verschlungen – nicht nur die gleichnamige Zeitung.

Du mußt unbedingt den Literaturteil lesen!

Ja, verflucht, aber wenn ich die Literaturteile alle lese, bin ich nicht imstande, auch noch ein Buch oder mehrere Bücher zu lesen, denn morgen gibt's wieder einen Literaturteil und Feuilleton sowieso, und wenn man den Wirtschaftsteil immer gleich wegschmeißt, gilt man als ignorant und gestrig. Auch in den Sport muß man wenigstens geschaut haben, damit man weiß, wovon die Kerle reden. Intellektuelle reden furchtbar gern über Sport. Auch solche, die nicht einen Fuß unfallfrei vor den anderen kriegen und unter der Last einer Zigarette schon zusammenzubrechen scheinen.

Zeitungen sind eine Pest. Sie liegen überall herum und starren einen anklagend an. Du hast den Habermas-Essay noch nicht gelesen und wirst morgen wieder wie die letzte Pfeife dastehen!

Also reißt man ihn raus und legt ihn zu den anderen vergilbenden, schlampigen, unsere Aufmerksamkeit einfordernden Papierfetzen. Ordentliche Menschen haben Papierscheren und Mappen, nach Themen geordnet. Mit einem Griff finden sie den hochinteressanten Artikel über die Frau im Islam aus dem Jahre 1994, ja, aus der SZ, muß im Juni gewesen sein, ah, da isser ja.

Ich finde nur, was ich nicht suche: Altpapier. Und weiß auch ums Platzen nicht mehr, warum ich diese Glosse oder jenen Diätvorschlag aufgehoben habe. Oder eine kilometerlange Neubewertung der Werke Ernst Jüngers.

Ich hasse Zeitungen. Alle. Es hat gar nichts mit ihrer politischen Richtung, ihrem Layout oder dem Ehrgeiz ihrer Journalisten zu tun. Seit es das Internet gibt, verfügen auch sehr schlichthirnige Schreiber über einen reichen Zitatenschatz. Man staunt immer wieder, wie sich da manch klopsiger Text mit sehr feinen Lesefrüchten schmückt.

Also gut: Man kauft eine, weil es ja nicht anders geht und man der menschlichen Gesellschaft nicht abschwören mag, sie kostet meinetwegen zwei Euro, und dann schmeißt man für einen Euro fünfzig ungelesenes Papier weg. Ich esse eine Artischocke, da schmeiße ich von den vier Euro, die sie gekostet hat, drei Euro fünfzig weg, ohne zu klagen. Aber für den Rest kriege ich eine flüchtige, dennoch unvergeßliche Köstlichkeit. Wenn man in der Zeitung etwas findet, das den Artischockenvergleich verdient, möchte man's in einem richtigen Buch sehen und nicht schon wieder Altpapier horten. Denn das vermehrt sich: Es besetzt Plätze, die ihm nicht gehören, es zwängt sich in Schubladen und Regale, bedeckt Eßtische und Nachtschränke, Abordnungen tauchen in der Küche auf, eine Konterbande, die sich mit Kochrezepten tarnt. Im Badezimmer winkt eine Kosmetikwerbung triumphierend zwischen den Nagellackfläschchen hervor, sie hat sich mit der Tageszeitung eingeschmuggelt, die – Samstagsausgabe und fett – erstickt indessen ein paar wehrlose Bücher auf dem Schreibtisch.

Ich hasse Zeitungen, denn sie nehmen keine Rücksicht. Sie wissen um ihren frühen Tod, deswegen sind sie in ihrer kurzen Lebenszeit entsetzlich aufdringlich. Und wenn sie gestorben sind, hinterlassen sie überall die Hüllen toter Aufregungen. Es nützt nichts, sie zu beseitigen. Morgen sind neue da. Und nicht einmal sonntags ist man noch sicher.