: Zu früh für weißen Rauch
Eine Gelassenheit fast bis zum Desinteresse: Nur die Spitzenkandidaten gingen medienwirksam an die Urne, während das Volk weitgehend ausblieb. Schleswig-Holstein hat gestern gewählt. Eine sonntägliche Reise ins Bewusstsein des Herrschers
Von Benno Schirrmeister
Majestätisch gelassen. Vielleicht ist es ja das. Mit majestätischer Gelassenheit ist das Volk in Schleswig-Holstein gestern zur Urne geschritten, um sein fürnehmstes Recht wahrzunehmen – zu herrschen. Das wäre vielleicht das richtige Wort, um zu beschreiben, dass sich nichts, aber auch gar nichts tut. Die Landschaft liegt still da, ruhig ruht der See, es ist kühl. Die Aussicht auf dem Weg nach Kiel ist eher eine, ohne die sich gut auskommen ließe, auch am Wahlsonntag. Vielleicht gerade am Wahlsonntag. Vielleicht ist es aber auch eine besonders symptomatische Wahlsonntagslandschaft: Unspektakulär, ereignisarm, regnerisch.
Es ist natürlich keine Überraschung, dass an einem Wahlsonntag nichts geschieht. Nur dass hie und da ein Zettel mit Kreuzchen in vorbereitete Behältnisse gesteckt wird. Von 8 Uhr an. Von Prominenten, von weniger Prominenten und von gänzlich unbekannten Menschen.
SpitzenkandidatInnen wählen grundsätzlich am späten Vormittag. Dann ist die Presse wach und kann sich vergewissern, dass Ministerpräsidentin Heide Simonis sich nicht der Stimme enthält, sondern sie ordnungsgemäß zu Papier bringt. Um 11 Uhr steht sie in Kiel an der Urne, nahezu zeitgleich gibt ihr Herausforderer Peter Harry Carstensen seine Stimme in seinem Heimatort Elisabeth-Sophien-Koog an der Westküste ab.
Auf der Hallig Gröde ist um 11 Uhr die Wahl bereits wieder vorbei. In Schleswig-Holsteins kleinster Gemeinde haben die 12 wahlberechtigten Einwohner ihre Stimme abgegeben. Alle 12. Eine Wahlbeteiligung von vorbildlichen 100 Prozent, während man sich anderswo Zeit lässt. Gelassenheit fast bis zum Desinteresse. Um 14 Uhr sind knappe 40 Prozent der Wähler im Land an den Urnen gewesen. Dreieinhalb Stunden später sind es 62 Prozent. Der historische Tiefstand von der Landtagswahl 2000 mit 69.5 Prozent wird noch einmal deutlich unterboten.
Aber die Gelassenheit gehört zum Herrschaftshandeln dazu, seit jeher. Und sie geht deutlich weiter als jene eines „großen Königs“, über den der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz geschrieben hat, dass ihn eine „Fliege, die ihn um den bart herumbsauset“ zu folgenschweren Fehlentscheidungen verleiten könnte.
Die Fliege spricht eindeutig fürs Volk als Souverän: Sollte sich einer beim Kreuzchen-Machen wegen einer Fliege vertun, dann ist das eine so minimale Abweichung, dass sie im zählbaren Ergebnis nahezu völlig verschwindet. Ein Fall für die Infinitesimal-Rechnung. Das verstärkt natürlich die Gelassenheit, ebenso wie die Tatsache, dass sich mit den Kreuzchen so viel nun auch wieder nicht falsch machen lässt: etwa zwei Prozent ist es dann doch gelungen, die haben NPD gewählt.
Zwischen Neumünster und Kiel, also irgendwo zwischen Wahlkreis 14 und 17, steigt Rauch aus einem Schornstein auf dem Dach eines Wohnhauses. Weißer Rauch? Dafür ist es noch zu früh. Umgekehrt ist es nicht zu spät, sich so auf der Fahrt zu überlegen, was wäre, wenn die Schleswig-Holsteiner sich still und heimlich darauf verständigt hätten, alle die Partei Bibeltreuer Christen zu wählen. Das wäre mal eine Sensation!
Spektakulärer aber würde die Wahl trotzdem nicht ablaufen. In den Wahllokalen würde es vielleicht zu heftigem Augenkniepen kommen ob der geheimen Absprache, aber dennoch würde man die Stimmzettel ordentlich gefaltet in den Umschlag stecken und den in die Urne, nur halt rechts mit einem Kreuzchen bei der neunten Landesliste. Und dann würde wahrscheinlich Hartmut Nitz aus Pinneberg Ministerpräsident. In seinem Wahlprogramm kündigt er an, „durch die Berufung einer unabhängigen Sparkommission“ die Verschuldung zu stoppen. Bei der letzten Landtagswahl erhielt die Partei Bibeltreuer Christen in Schleswig-Holstein 2,0 Promill der Stimmen.
Der Bahnhof in Kiel ist kein hübscher Bahnhof. Aber er funktioniert. Es gibt Gleise, auf denen die Züge einfahren, getrennt von Steigen, auf denen sich Fußgänger Richtung Bahnhofshalle bewegen oder von der Halle weg. Besonders viel ist nicht los. Fast herrscht eine Grabesruhe. „Ein ganz normaler Sonntag“, sagen Passanten, die allerdings vergessen haben zu wählen. Jetzt ist es dafür zu spät. Es regnet nicht mehr.
Vor dem Landeshaus ist viel Polizei zu sehen. Jemand hat Frau Simonis einen Kaugummi auf die Stirn geklebt. Auf dem Wahlplakat. Ansonsten scheinen die Kieler noch ermattet von der Wahlanstrengung, oder sie schauen alle schon Fernsehen, um zu sehen, was sie mit ihren Kreuzchen an diesem Sonntag angerichtet haben.
Vielleicht sind sie auch alle bereits in der Kieler Brauerei, um mit der „Familienpartei“ auf das berauschende Ergebnis anzustoßen. Dabei beginnt deren Wahlparty erst um 19 Uhr, wenn auch wirklich hundertprozentig klar ist, dass sie nicht einmal das Wahlkampfgeld zurück erstattet bekommen: Das erhält eine kandidierende Partei erst mit einem Prozent der Stimmen.