: Tippfehler heizen Joblosen ein
Die Arbeitsagentur schlampt bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes II: Über die Hälfte der Widersprüche von Betroffenen ist berechtigt. Häufig Fehler bei Angabe der Krankenkasse
VON ULRICH SCHULTE
Praktisch, praktisch: Wer in Mitte wohnt und einen Arbeitslosengeld-II-Bescheid voller Fehler bekommen hat, kann dagegen in der Widerspruchsstelle, Lindenstraße 22–23 protestieren – und gleich auch den politisch Verantwortlichen aufs Dach steigen. Denn in dem pompösen Sandsteinbau residiert der Landesvorstand der Grünen, ein Stockwerk darüber prüfen Jobcenter-MitarbeiterInnen fehlerhafte Arbeitslosengeld-II-Bescheide.
Hier herrscht in diesen Tagen viel Betrieb – ebenso wie in den anderen Widerspruchsstellen Berlins. 18.500 Arbeitslosenhilfegeld-II-Bezieher haben ihre Bescheide angezweifelt, über 3.300 Widersprüche wurde bisher entschieden: „Über die Hälfte davon war tatsächlich begründet“, sagt Raimund Ruegenberg, Büroleiter der Agenturgeschäftsführung Berlin-Brandenburg. Rund 1.700 falsche Bescheide musste die Agentur also korrigieren.
Eine Quote, die laut Ruegenberg „deutlich über der im normalen Betrieb“ liegt – aber angesichts der überstürzten Hartz-IV-Umsetzung nicht überrascht. Die jetzt bestätigten Pannen passierten schon vor Jahreswechsel: „Da haben wir massiv auf die pünktliche Auszahlung des Geldes hingearbeitet.“ Die Folge seien Eingabe- und Übertragungsfehler gewesen, so Ruegenberg. Also nur ein paar tausend Tippfehler?
Richtig peinlich jedenfalls sind Ausrutscher, von denen Marion Drögsler, Vorsitzende des Berliner Arbeitslosenverbandes, erzählt: Häufig seien etwa Patzer beim Thema Krankenkasse. Bei einem pflichtversicherten Mann habe die Behörde zwar die Frau korrekt als familienversichert geführt, vier Kinder aber schlicht vergessen. „In anderen Fällen stand auf dem Bescheid plötzlich die falsche Krankenversicherung – die natürlich auch den Beitrag kassiert hat“, sagt Drögsler. Oft fallen ihr bei der Beratung von Arbeitslosen Fehler wie die falsche Anrechnung von Gehältern, das Weglassen von Freibeträgen oder zu hohe Energieabzüge für die Wohnung auf. „Die meisten merken das erst gar nicht. Die Bescheide enthalten jede Menge Zahlen auf sieben Seiten Papier.“
Dass die Arbeitsmarktreform Berlins Behörden zeitweise ins Chaos gestürzt hat, ist nicht neu, die hohe Fehlerquote ergänzt eine Reihe von Problemen: Jüngst hatte der Personalrat der Verwaltungen die Jobcenter als schlecht ausgerüstet und überfordert kritisiert. In den Centern müssten MitarbeiterInnen zwischen 220 und 300 Leute betreuen, so der Personalrat, angedacht waren lediglich 150. In puncto berechtigter Widersprüche prognostiziert Ruegenberg von der Landesarbeitsagentur, dass deren Zahl abnehmen wird: „Alle eingehenden Fälle sichten wir zunächst nach offensichtlich begründeten Fehlern. Die haben bei der Bearbeitung Vorrang.“ Zu einem förmlichen Widerspruchsverfahren – schriftlich einzureichen innerhalb eines Kalendermonats nach Erhalt des Bescheids – müsse es gar nicht erst kommen: „Sofort beim Bearbeiter melden. Wenn’s auf der Hand liegt, wird das unkompliziert korrigiert.“ Arbeitslosenvertreterin Drögsler hält Wartezeiten von mehreren Monaten für realistischer: „Angesichts der Fülle der Widersprüche muss ja viel liegen bleiben.“
In Berlin beziehen 300.000 Menschen Arbeitslosengeld II, nur 2 Prozent der Anträge waren abgelehnt worden. Die Hartz-Reform treibt die Arbeitslosenquote hoch: Denn anders als im vergangenen Jahr müssen sich erwerbsfähige bisherige Sozialhilfeempfänger bei den Arbeitsagenturen melden. Im Januar waren 328.000 Menschen als arbeitslos registriert, 41.000 mehr als im Dezember.