: Werktreues Strawinsky-Remixen
KRASS MANIPULIERT Hören Sie den Unterschied? Stefan Goldmann hat Igor Strawinskys „Sacre du Printemps“ neu zusammengesetzt
Remixen gehört zum Selbstverständnis elektronischer Musik. Erscheint ein neuer Track, bekommt man oft einen Sack voll Bearbeitungen mitgeliefert. Das Original dient als Rohmaterial, aus dem jeder DJ machen kann, was er will. Wenn es nicht ein kompletter Remix sein soll, tut es auch ein Edit, bei dem der DJ das Stück so zurechtschneidet, dass es in den eigenen Mix passt. Für House- und Discoproduzenten ganz gewöhnliches Handwerkszeug, durch heutige Software zudem leicht zu beherrschen.
Nicht jedem Musiker gefällt das. Der Berliner House-Produzenten Stefan Goldmann findet den Edit-Alltag ziemlich frustrierend: „Dadurch, dass das digitale Editing so einfach ist, gibt es diesen Impuls, dass alles, was man nicht auf Anhieb einordnen kann, sofort zurechtgeschnitten wird.“ Wird ein Stück veröffentlicht, gibt es kurz darauf eine Flut von Edits, das Original bekommt man kaum noch zu hören.
Goldmann selbst hatte lange mit dem Gedanken gespielt, ein „Original“ der Neuen Musik elektronisch zu bearbeiten. Favorit war Igor Strawinskys „Sacre du Printemps“, Ballettklassiker von 1913 – heftige Rhythmen, dissonante Klänge. Statt zu remixen entschied er sich für einen Edit.
Langes Puzzeln
Die Goldmann’sche Fassung des „Sacre“ ist kein Edit im gewöhnlichen Sinn, eher ein kritischer Kommentar. Denn an der Komposition hatte er nichts auszusetzen. „Es lohnt sich nicht, etwas zu remixen, das perfekt ist.“ Also beschloss er, das Werk in seiner Struktur zu lassen. Ihn interessierten die Unterschiede verschiedener Einspielungen, die Dirigenten als Interpreten.
Was dann geschah, klingt zunächst nach ambitionierter Beschäftigungsmaßnahme. Goldmann nahm sich rund zwei Dutzend Aufnahmen, schnippelte daran herum und bastelte aus 146 Segmenten eine neue Version. Ohne eine Note zu ändern. Beim ersten Hören merkt man wenig von der immensen Arbeit, die in dem Edit steckt. So musste Goldmann nicht nur lange puzzeln, zum Teil bearbeitete er sogar die Segmente selbst, wenn eine alte Aufnahme mal nicht genug Höhen hatte: „Das ist teilweise krass manipuliert, aber ich habe mich bemüht, dass man es selten wirklich hört.“
Im Grunde bewegt sich das Ergebnis an den Grenzen der Hörbarkeit. Man muss schon sehr gut aufpassen, um die Unterschiede zwischen den einzelnen Interpretationen zu bemerken. Aber es gibt noch etwas anderes, das sich permanent ändert, denn jede Aufnahme hat einen anderen Klang. Konzentriert man sich ganz und gar auf das Stück, fallen Details auf, die normalerweise keine Rolle spielen. Der Klang wechselt von schwachem zu deutlichem Rauschen oder von einer trockenen zu einer hallenden Raumakustik.
Edit-Struktur im Werk angelegt
Neben den unterschiedlichen Dirigenten geht es Goldmann auch um die Leute im Hintergrund einer Einspielung: die Tonmeister. Was man bei einer Schallplatte eigentlich nicht bemerken soll, wird hier zur musikalischen Variable. Goldmann nimmt einen mit auf die Reise durch verschiedene Konzertsäle, in denen die Mikrofone mal ganz dicht an die Instrumente gerückt sind oder sie wie aus weiter Ferne klingen lassen.
Wie kommt man auf eine solche Idee? „Das Stück bietet sich dafür an, weil es diese Blöcke hat, es ändert sich ständig etwas, das Metrum oder das Tempo.“ Er sieht in der Komposition daher eine Edit-Struktur angelegt.
Dass seine minimalistische Arbeit auch bei gründlichem Nachdenken wenig greifbar bleibt, macht sie für Goldmann gerade spannend: „Ich mag es, wenn sich ein Abgrund auftut.“
Dazu passt, dass die CD vom Erratik Institut Berlin gefördert wurde. Auf die Frage nach der Verbindung zum Institut gibt er sich doch etwas rätselhaft. „Im Kern ist das Erratik Institut eine sehr undurchsichtige Geschichte, und entsprechend dubios ist auch diese Förderung.“ Sollte das Rätsel die Spitze an Sinn sein, dann hat Stefan Goldmann ein höchst sinnvolles Kunstwerk geschaffen.
TIM CASPAR BOEHME
■ Igor Strawinsky: „Le Sacre du Printemps (Stefan Goldmann) Edit“ (Macro Recordings)