: Geisel von Guerilla und Staat
von INGO MALCHER
Der Präsident hat keine Zeit. Oder wichtigere Dinge zu erledigen. Oder keine Lust. Schon seit einem Jahr bittet Yolanda Pulecia um einen Termin bei Álvaro Uribe. Bislang vergeblich. Der Präsident Kolumbiens will die Mutter der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin nicht in seinem Büro empfangen. Dabei ist Pulecias Anliegen dringlich. Vor drei Jahren wurde ihre Tochter Ingrid Betancourt von den kolumbianischen Farc-Rebellen im Süden des Landes entführt und ist seither Gefangene der Guerilla.
Aber nicht nur der Guerilla. Sie ist auch Gefangene von Uribes starrer Haltung. Die Guerilla hat Betancourt gekidnappt und sie, zusammen mit weiteren 59 Geiseln zu „austauschbaren Gefangenen“ erklärt – austauschbar gegen inhaftierte Farc-Guerilleros. Aber Uribe denkt nicht daran, auf den Deal einzugehen, einen Gefangenenaustausch gibt es nur zu seinen Bedingungen. Seit seiner Wahl im Jahr 2002 feilt Uribe geflissentlich an seinem Hardliner-Image. Sein politisch wichtigstes Projekt ist eine Verfassungsänderung, die ihm 2006 die Wiederwahl ermöglichen soll. Verhandlungen mit der Guerilla oder gar ein Gefangenenaustausch passen nicht in sein Bild vom Law-and-Order-Mann.
Gefangen im Süden
„Der Präsident ist mehr an seiner Wiederwahl interessiert als an den Geiseln, deren Leben jeden Tag auf dem Spiel steht“, klagt Pulecia. Das letzte Lebenszeichen ihrer Tochter hat sie im August 2003 erhalten, es war eine Videokassette mit Aufnahmen von Betancourt, die einem Fernsehsender zugespielt wurde. Viel erfahren hat die Mutter darauf nicht.
Es war am 23. Februar 2002, im Süden des Landes auf der Straße von Florencia nach San Vicente del Caguán, als Betancourt mit ihrem Wagen gestoppt wurde. Damals war Betancourt im Präsidentenwahlkampf für ihre Partei Oxigeno Verde unterwegs, die sich vor allem im Kampf gegen Korruption und im Gesundheitssektor zu profilieren suchte. Betancourt, damals 41 Jahre alt, Tochter einer wohlhabenden Familie, engagierte sich für eine friedliche Lösung des Konflikts mit der Guerilla. Die gebildete Frau mit der sanften Stimme, Mutter zweier Kinder, wollte den gewohnten Politikbetrieb ihres Landes stören und sich einmischen, war Senatorin und davor Abgeordnete. Sie hatte noch nicht einmal eine Außenseiterchance bei dem Urnengang. Als der damalige Präsident Andrés Pastrana nur Tage zuvor den Friedensprozess mit der Guerilla für beendet erklärt hatte und der Armee befahl, in das Rückzugsgebiet der Farc einzumarschieren, fuhr Betancourt Richtung der einstigen Farc-Zone, wo noch eine Woche zuvor über den Frieden verhandelt wurde.
Sie kam nicht weit. An einer Straßensperre befahlen ihr Farc-Guerilleros auszusteigen und verschleppten sie zusammen mit ihrer Mitarbeiterin Clara Rojas. „Es waren drei lange, sehr harte Jahre, in denen wir alles versucht, aber nichts erreicht haben“, sagt ihre Mutter. Bei öffentlichen Auftritten oder Demonstrationen trägt sie immer eine lebensgroße Fotografie von ihrer Tochter mit sich. Die steht dann hinter ihr, während Pulecia bei Podiumsdiskussionen über Menschenrechte in Kolumbien unter der neuen Regierung referiert.
Präsident Uribe sagt: „Die Regierung hat alle Anstrengungen unternommen.“ Pulecia sagt: „Es wirkt so, als hätte der Präsident nicht die Absicht zu helfen, als hätte er kein Herz.“ Die Farc fordert von Uribe eine neue entmilitarisierte Zone, in der sie mit ihm ungestört über einen Gefangenenaustausch verhandeln kann. Auf der Liste der Guerilleros, die kolumbianische Knäste verlassen sollten, stand auch Simón Trinidad, vergangenes Jahr in Ecuador festgenommener Farc-Mann. Doch am 31. Dezember 2004 lieferte Uribe ihn an die USA aus, wo er wegen Drogenhandels und Terrorismus vor Gericht gestellt werden soll. Eine Freilassung von Betancourt und den weiteren Geiseln rückte damit in weite Ferne.
Noch immer hängt Uribe der Fantasie nach, die Guerilla auf dem Schlachtfeld schlagen zu können. Mit seinem „Plan Patriota“ hat er das Militär mobilisiert und die Jagd auf die Guerilla freigegeben. Er hat Campesinos zu potenziellen Spitzeln der Sicherheitskräfte gemacht und damit den Unterschied zwischen Zivilisten und kämpfenden Parteien verwischt. Er hat ein Sicherheitsgesetz durchgeboxt, das die Bürgerrechte einschränkt und das Militär in Kriegsgebieten über die gewählten Bürgermeister stellen kann.
Der erfolgreiche Hardliner
An einer anderen Front ist Uribe bereit zum Dialog. Mit den rechten Paramilitärs handelt er einen Friedensvertrag aus. Im Norden des Landes hat er in Santa Fé de Ralito ein Rückzugsgebiet für rechte Freischärler eingerichtet, die ihre Waffen abgeben wollen. Den Abgeordneten liegt ein Gesetz zur Abstimmung vor, das die Strafen für entwaffnete Paramilitärs auf maximal zehn Jahre beschränkt, selbst dann, wenn ihnen Verbrechen gegen die Menschheit, Massaker oder Mord nachgewiesen werden können. Menschenrechtler warnen bereits vor Straffreiheit für die rechten Milizen.
Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb versagen die Kolumbianer Uribe nicht die Gefolgschaft. Im Land ist er noch immer populär, weil er als ein Macher gilt, der die Dinge anpackt. Spielzeugläden verkaufen ihn schon als Puppe. „Uribito“ kann sogar sprechen. Er sagt: „Haben wir keine Angst!“ In den großen Städten Medellín und Bogotá hat man eben andere Sorgen als auf dem Land, wo der Bürgerkrieg tobt. Und die Zeitungen bejubeln Uribe, als hätte er sie dafür bezahlt.
So viel Rückenwind weiß er geschickt zu nutzen. Abgeordnete in Kongress und Senat hoben bereitwillig den Arm, als eine Verfassungsänderung anstand, die Uribes Wiederwahl im Jahr 2006 ermöglicht. Jetzt fehlt nur noch die Zustimmung des Obersten Gerichtshofes. Seine politischen Prioritäten heißen Wiederwahl, Frieden mit Paramilitärs, Krieg der Farc. Geiseln? Humanitäre Abkommen zur Freilassung? Verhandlungen? Das sind nicht die beliebtesten Vokabeln im Wortschatz des Präsidenten. Ebenso wenig wie der Terminus „bewaffneter Konflikt“. Nehmen ihn Journalisten auf Pressekonferenzen in den Mund, werden sie von Uribe zurechtgewiesen: „Ich hatte Ihnen schon einmal erklärt, dass wir in unserem Land Terrorismus haben.“
„Uribe träumt noch immer von einem zerstörerischen Frieden“, sagt Raúl Reyes. Der Mann mit der Brille und dem angegrauten Vollbart ist einer der wichtigsten Farc-Kommandanten. Er hat der Regierung eine neue Großoffensive versprochen. Begonnen hat sie am ersten Februar mit einem Angriff auf eine Militäreinheit, bei dem 35 Soldaten starben. Bislang kostete die Farc-Offensive insgesamt 61 Menschen das Leben. „Und das ist erst der Anfang dessen, was das Regime von Uribe zu erwarten hat“, droht Reyes. „Es stimmt nicht, dass die Regierung den Krieg gewinnt.“ In den vergangenen zwei Jahren hatten sich die Guerilleros der Farc in die Wälder und Berge zurückgezogen und nur sporadisch die Sicherheitskräfte angegriffen. Mit diesem „taktischen Rückzug“, so Reyes, soll jetzt Schluss sein.
Ohne Verhandlungen bleiben Ingrid Betancourt und die weiteren 59 Geiseln zwischen den Fronten. Kurz nach der Entführung von Betancourt rief Uribe ihren Ehemann Juan Carlos Lecompte zu sich. Die Armee habe herausgefunden, wo Betancourt versteckt gehalten wird. Wenn die Familie zustimme, könnten die Soldaten jederzeit zuschlagen, die Chancen für eine Befreiung stünden gut. „Auf keinen Fall“, war Lecomptes Antwort.
Der erfolglose Kampf
Vor der Entführung war Lecompte, wie er sagt „ein ausgeglichener Mensch“ Marke Lebemann. Er war verrückt nach Motorrädern, hörte Rock ’n’ Roll und spielte Golf. Doch heute sagt er: „Mein Leben hat sich komplett verändert.“ Sein Humor sei verschwunden, er sei „ungeduldig und voller Zorn“. Seit drei Jahren kämpft er unermüdlich um die Freilassung seiner Frau. Er knüpfte Kontakte zur französischen Regierung, besuchte Farc-Guerilleros im Gefängnis, er fuhr mit dem Boot den Amazonas hoch, in der Hoffnung, in einer Krankenstation Ingrid Betancourt zu finden – vergebens.
Seine Bemühungen für die Freilasssung seiner Frau hat er jetzt in einem Buch geschildert. „Buscando a Ingrid“ („Auf der Suche nach Ingrid“) ist ein erschütterndes Dokument über die kolumbianische Wirklichkeit und es schildert, wie Lecompte sich zu einem der schärfsten Kritiker von Präsident Uribe wandelte.
„Präsident Uribe hat fünfmal in Verhandlungen eingegriffen, die einen Gefangenenaustausch in die Wege leiten sollten, er hat Vermittlungen der katholischen Kirche behindert“, beschwert sich Lecompte. Doch solche Sätze haben Folgen in Kolumbien. Wenige Tage vor dem zweiten Jahrestag der Entführung seiner Frau klingelte sein Mobiltelefon. Ein Mann, mit leichtem Akzent aus Medellín, sagt: „Hör zu, du Schwein, wenn du Scheiße über Uribe erzählst, machen wir dich alle.“ Am Abend ruft der Unbekannte erneut an, dieses Mal in Lecomptes Wohnung: „Entweder du schweigst, oder wir bringen dich zum Schweigen.“ Es blieb nicht die einzige Todesdrohung. Trotzdem schweigt Lecompte bis heute nicht.