piwik no script img

Archiv-Artikel

Kinderreich? Kinder arm!

Eine aktuelle Unicef-Studie belegt die zunehmende Kinderarmut in Deutschland. Und das, obwohl die Sozialausgaben steigen wie in Skandinavien

VON BARBARA DRIBBUSCH

Eigentlich könnten die Zahlen für Deutschland ganz anders aussehen. So, wie in vielen anderen reichen Industrienationen auch, in denen die Kinderarmut im letzten Jahrzehnt abgenommen hat – als Folge steigender Löhne, zunehmender Erwerbstätigkeit der Mütter und besserer staatlicher Familienförderung. Doch in Deutschland „ist die Kinderarmut höher als noch ein Jahrzehnt zuvor“, resümieren Wissenschaftler in Studien der Unicef und des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI), die gestern vorgestellt wurden. Was ist geschehen?

Die Zahlen für Deutschland überraschen auf den ersten Blick, denn nicht nur in Skandinavien wurden die Kinderarmutsquoten gesenkt (siehe Kasten). Auch in den USA und Großbritannien weist der Trend nach unten, allerdings von einem weit höheren Armutsniveau ausgehend als hierzulande. In Deutschland jedoch ist die relative Kinderarmut im Laufe der 90er-Jahre um 2,7 Prozentpunkte auf 10,2 Prozent im Jahr 2001 gestiegen, wobei der Westen bei 9,8 Prozent, der Osten bei 12,6 Prozent liegt.

Unter Armut versteht man dabei eine Einkommenssituation, die um mehr als die Hälfte unter dem so genannten Median-Einkommen liegt. Das Median-Einkommen ist jenes, das von der Hälfte der Bevölkerung nicht mehr erreicht wird. Die Armutsgrenze, also die 50 Prozent dieses Medians, liegt bei einer Alleinerziehenden mit Kind bei 1.088 Euro netto im Monat. Ein Paar mit zwei Kindern gilt ab einem Einkommen von unter 1.958 Euro hierzulande als arm.

Drei Schlüsselfaktoren, so die Unicef-Forscher, entscheiden darüber, wie viele Kinder und damit auch deren Eltern in einem reichen Land von relativer Armut betroffen sind: Sozialpolitik, gesellschaftliche Trends und Arbeitsmarkt. In Deutschland etwa sind die Sozialausgaben in den 90er-Jahren gestiegen, jedoch ging ein höherer Anteil davon in die Alten- und Gesundheitspolitik, ein geringerer Teil in die Förderung der Familien.

In skandinavischen Ländern wird Kinderarmut durch Sozialleistungen und steuerliche Förderung stärker gedrückt als in Deutschland. In Schweden etwa läge die Kinderarmut bei 18 Prozent, wird aber durch die staatlichen Hilfen auf nur noch 4.2 Prozent gesenkt. In Deutschland hingegen, wo ohne Förderung auch 18 Prozent zu verzeichnen wären, drückt der Staat die Quote nur auf 10,2 Prozent hinunter. Mit dieser Familienförderung liegt Deutschland international allerdings immer noch gut im Mittelfeld.

Die Sozialausgaben sind jedoch nur ein Aspekt, der bestimmt, ob Kinder in Armut absacken. Wichtig sind auch soziale Trends. Hier ist überraschend, dass die Tatsache, dass die Zahl der Kinder pro Familie in den Industrieländern sinkt, unterm Strich in Deutschland nicht dazu führt, dass weniger Kinder von Armut betroffen sind als früher. Zwar haben die niedrige Kinderzahl und auch das steigende Durchschnittsalter der Eltern zur Folge, dass der Wohlstand zunimmt. Auch sind die Mütter besser ausgebildet als früher. Im Gegenzug aber steigt der Anteil der Alleinerziehenden – und deren Armutsrisiko ist hoch. Fast 40 Prozent der Alleinerziehenden liegen unter der Armutsgrenze, ergaben die Studien. Bei Paaren mit bis zu zwei Kindern beträgt die Armutsquote hingegen nur 3 Prozent.

Hinter dieser zunehmenden Kinderarmut verbergen sich somit immer tiefer werdende soziale Aufspaltungen in der Gesellschaft. Die Erhebungen von Unicef und RWI zeigen nämlich auch, dass die unteren Einkommen vor allem in Deutschland in den 90ern drastisch gesunken sind: Das am schlechtesten bezahlte Zehntel der arbeitenden Väter in Westdeutschland musste zwischen 1989 und 2000 Einkommenseinbußen von 22 Prozent hinnehmen.

Immigranten-Haushalte mit Kindern in Deutschland sind besonders betroffen: Hier hat sich die Armutsquote der Kinder von 5 auf 15 Prozent verdreifacht. Je kürzer die Immigranten erst in Deutschland lebten, desto höher war ihr Armutsrisiko. Die Kinderarmut sagt also am Ende etwas aus über die Entwicklung neuer Unterschichten in Deutschland – und den sozialen Ausschluss, der schon in der Kindheit beginnt.