: Stimmenfang auf Holländisch
Die Angst vor dem Islam wird von niederländischen Politikern missbraucht. Das sagt Leo Lucassen von der Amsterdamer Uni bei einer Diskussion über Migration im KWI Essen – ohne MigrantInnen
AUS ESSEN TJITSKE YPMA
Noch nie seien sich Politiker in den Niederlanden so einig gewesen. Durch das gemeinsame „Feindbild Islam“ habe sich jetzt sogar die Linke und Rechte über rigorose Maßnahmen gegen mögliche Fundamentalisten und Terroristen verständigt. Dazu werde „der Islam“ oft verknüpft mit der angeblichen Verweigerung von Integration. Das sagte Leo Lucassen, Professor am Institut für Migration und Ethische Studien der Amsterdamer Universität in Essen. „Der Mord an Theo van Gogh, seine Hintergründe, seine Folgen“ war am Mittwochabend im Kulturwissenschaftlichen Institut Thema der Gesprächsreihe Kultur Kontroversen.
„Die Angst regiert, und alle machen mit,“ erklärt Lucassen. Die Politiker wüssten, dass sie harte Worte benutzen müssen, um so Wähler für sich zu gewinnen. Das sei in den Niederlanden eine größere Gefahr als in Deutschland, weil die Bürger sich seit dem Zweiten Weltkrieg dort immer besser gefühlt hätten und deshalb weniger selbstkritisch seien. „Die Niederlande sind jetzt in einer Position, die Deutschland schon lange verlassen hat“, so Lucassen. „Fremdkörper-Denken“ gäbe es hier nicht mehr.
Maßnahmen in Holland, wie die Ausweisung von drei radikalen Imamen durch Rita Verdonk (Liberale), Ministerin für Integration und Ausländer, würden vor allem aus symbolischen Gründen vorgenommen. „Damit werden aber die wirklichen Probleme, wie Arbeitslosigkeit und Bildungsschwächen, nicht gelöst“, sagt Lucassen. „Die Niederländer müssen erkennen, dass die Politik die Probleme falsch angefasst hat.“
Dabei habe eine parlamentarische Untersuchung sogar gezeigt, dass Multikulturalismus und Integration teils gelungen sind. Doch das wollte niemand in Zeiten eines Pim Fortuyn, dem ermordeten Rechtspopulisten, wissen. Heute projiziere jeder seine eigene Angst auf den Islam. Das helfe nicht weiter, die Fundamentalisten seien keine Dummköpfe, sagt der Niederländer. „Die türkischen und marokkanische Gruppen diskutieren die selben Sachen wie wir.“ Zum Beispiel über Zwangsheirat und Ehrenmord. Das sei viel besser, denn die Muslime könnten sich nur selbst emanzipieren.
Auch für Deutsche habe es keinen Sinn, nur über die Positionen der Frauen im Islam zu reden. Das sollten die selber machen. Lucassen wundert sich, dass bei der Diskussion ausschließlich deutsche Bürger anwesend sind. „Gebt ihnen eigene Vereine und Institutionen, dann werden sie sich selbst emanzipieren – genau wie die Katholiken das in den Niederlanden gemacht haben.“ Um Frauen beispielsweise gegen Zwangsheirat oder Gewalt in der Ehe zu schützen, gäbe es in den Niederlanden und Deutschland Gesetze. „Die gelten für alle und damit sind auch die meisten Einwanderer einverstanden“, meint Lucassen. Verbrecher müssten vor Gerichten bestraft werden.
„Mit den Italienern ist es auch gut ausgegangen.“ Politikwissenschaftler Dietrich Thränhardt von der Universität Münster versuchte das Problem der Integration in Deutschland zu relativieren. Er sieht Lösungen in der politischen Aktivität von Türken und Marokkanern und besonders in einer Antidiskriminierungspolitik in Betrieben. Auch sollten mehr gesellschaftspolitische Vereine und Institute von Muslimen gegründet werden. „Denn die deutschen Kirchen spielen immer noch eine große Rolle mit ihren Wohlfahrtsverbänden und Schulen. Da ist vieles schief gelaufen,“ sagt Thränhardt.