: Ein Rabbi für die Wahrheit
P.G. Woodhouse jagt Doctor Ho. Ein Bericht von der New Yorker Gesundheitsfront
Auch Journalisten haben ein Recht auf Erbauung, und so kehre ich neulich, noch erschöpft von den Strapazen der Berlinale, zurück in meine schöne Heimatstadt New York, den christohungrigen Redakteur dieser Seite im Schlepptau. Und was tut der Mann? Er wird krank. Zuvor schafft er es noch, in meiner irischen Stammkneipe mit anderen Journalisten zu saufen, das Empire State Building zu besteigen, Chinatown, die Lower East Side und auf der Staten Island Ferry offene Gewässer zu durchpflügen. Doch dann ist das Maß voll, und ich erhalte mitten während einer wichtigen Ausstellungseröffnung per Mobiltelefon heisere, im Fieberwahn ausgestoßene Hilferufe nach ärztlicher Expertise, medikamentöser Behandlung, letzter Ölung.
Zu Hause erwartet mich ein delirierender Redakteur. Unter anderen Umständen vielleicht ein Anblick seltener Genugtuung, aber in Anbetracht der betrauernswerten Medienlage in der Heimat ist sofortiges Handeln geboten. Dabei sind allerdings mehrere Faktoren sorgfältig gegeneinander abzuwägen: Nachdem Hilary Clinton mit ihren ehrgeizigen Plänen zur Gesundheitsreform scheiterte, sind wir dazu verdammt, bei außerhalb der üblichen Arbeitszeiten auftretendem Unwohlsein den Emergency Room aufzusuchen. Unglücklicherweise erwarten uns dort nicht George Clooney und sein zupackendes Trüppchen, sondern Krankenhauskeime, schlecht gelauntes Personal sowie voraussichtliche Mumifizierung während ausgedehnter Wartezeiten. Hausbesuche kennt der New Yorker nicht.
Endlich erinnert sich mein panikgetriebenes Hirn an einen kleinen Handzettel, den ich vor Monaten aus meiner Apotheke mitgenommen habe: Medical House Calls. Professionelle Hilfe in Ihrem Heim oder Hotelzimmer. Voller Zuversicht wähle ich die Nummer.
Eine schleppende, undefinierbar akzentuierte Stimme antwortet. Ich beschreibe den Fall. Man hört mir zu. Stellt Fragen. Wie alt ist der Patient? Die Anzeichen? Ich berichte. Plötzlich ein Gedanke: Sind Sie Arzt?, frage ich vorsichtshalber. Aber nein! Nicht? Was sind Sie denn? „P.A.“. Was zum Teufel ist ein „P.A.“? Ein „Physician’s Assistant“. Ein Assistent? Hier stirbt jemand, und ich telefoniere mit einem Assistenten? Ich erinnere mich an die Losung, die in New York nicht nur bei Verhandlungen mit Handwerkern und Ähnlichem angebracht ist: Haben Sie überhaupt eine Lizenz? Der P.A. hat. Er nennt den Preis für seine lizensierte Visite, ich trage meinem Patienten vor und bin froh, dass er bereits völlig erbleicht ist. Wir sind uns handelseinig. In einer Stunde wird es so weit sein.
Ich mache Eiswürfelwickel und zähle die Minuten. Als es endlich klingelt, reiße ich die Tür auf und sehe in das freundlich umbartete Gesicht eines etwa 250 Pfund schweren, mittelalten – Rabbis? An seiner Hand baumelt eine ausgebeulte Arzttasche. Kein Zweifel. Mein P.A.
Menashe, sagt er und reicht mir eine dicke Patschhand. Menashe Newhouse. Nice to meet you, entgegne ich und stelle ihn dem umflort blickenden Patienten vor. Ich werde Sie jetzt besser allein lassen, sage ich umsichtig und schließe sanft die Tür, die sich bald wieder einen Spalt öffnet, und ein Fieberthermometer wird herausgestreckt. Sie hätten nicht zufällig etwas Alkohol? Zum desinfizieren? Menashe kniet, wohl um den einzigen, fragilen Stuhl im Zimmer zu schonen, vor meinem Patienten und sieht aus, als bete er. Erinnerungen an harte Kirchenbänke einer rheinisch katholischen Kindheit steigen in mir auf – aber kniende Juden? Die Rituale aller 700 New Yorker Konfessionen taumeln mir durchs Bewusstsein, o Abraham hilf! Die Tür schließt sich wieder, ich gieße Wodka über das Thermometer und anschließend in mich selbst. Dann wandere ich vor dem Krankenzimmer auf und ab wie ein werdender Vater während einer Geburt. Endlich öffnet sich erneut die Tür, und das Urteil erklingt aus dem dröhnenden Resonanzboden von Menashes ganzer Leibesfülle: Wir stehen auf der Schwelle einer Lungenentzündung. Ich finde, das ist jetzt auch das Mindeste.
Menashe ist sehr zufrieden mit meiner Weisheit, ihn zu bemühen. Er muss aber erst mit seinem Arzt Rücksprache halten, wegen der Lizenz und so. Der Patient hält die Augen geschlossen und sieht wächsern aus. Menashe spricht inzwischen mit Doktor Ho. Doktor Ho ist wahrscheinlich Chinese, schließe ich messerscharf. Gibt es koschere Antibiotika auf chinesischer Heilpflanzenbasis? Der Patient röchelt. Mir ist sehr warm, ich glaube, ich habe Fieber.
Das Ergebnis von Menashes Verhandlungen mit Dr. Ho ist eine doppelte Ladung hammerschwerer Antibiotika in Kombination mit aspirinfreiem, fiebersenkendem Tylenol. Der Patient lächelt im Delirium. Ich bezahle Menashe eine fürstliche Summe, während er eine stattliche Anzahl Formulare ausfüllt, verabschiede ihn unter Dankesbezeugungen und mache mich auf den Weg zu einer 24-Stunden-Apotheke, wo mich – ein überzeugendes Zeichen meines eigenen, fortschreitenden Fieberwahns – wieder Menashe hinter dem Tresen erwartet. Es ist aber dann doch sein etwas weniger schwergewichtiger Klon oder Cousin. Bewaffnet mit einem Arsenal heilkräftiger Substanzen kehre ich zu meinem Patienten zurück, der irgendwas von P.A. Newhouse faselt. Ich erkläre ihm, dass er P.G. Woodhouse meint, der aber Schriftsteller ist und keine Lizenz hat, Menashe Newhouse und Doktor Ho dagegen schon, und dass von nun an alles gut werden wird, aber da ist er schon eingeschlafen.
Wahrscheinlich träumt er von P.G. Woodhouse und Dr. No und im besten Falle von Sean Connery, jedenfalls schwitzt er am Morgen nur noch die Hälfte. Mein Mann, ein hartgesottener New Yorker, verliert beinahe das Bewusstsein, als ich Menashes Kontrollruf am nächsten Tag erwähne. Der hat angerufen? Wirklich? Hast du seine Nummer aufgeschrieben? Hab ich nicht. Menashe machte nämlich nur Vertretung. Der eigentliche P.A. ist krank. Ich bin sicher, wir dürfen gespannt sein. PIA FRANKENBERG