: Unterwegs an den Ort der Toten
Schlussakkord, Höllenfahrt, strukturiertes Chaos und der Schlund des Trichters, auf den alles zudringt: Walter Kempowski hat mit dem Band „Abgesang 45“ über die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs seine monumentale „Echolot“-Collage beendet
VON GERRIT BARTELS
Von Anfang bestand Gewissheit darüber, worauf das ganze Echolot-Projekt hinauslaufen sollte: auf das Jahr 1945, das Schicksalsjahr der Deutschen, aber auch anderer Nationen, ein Jahr, das Walter Kempowski am 27. 1. 1989 in seinen Notizen zum „Echolot“ bezeichnet als „der Schlund des Trichters, auf den alles zudringt“. Das Jahr 1945 ist, wie ehedem geplant, das stämmige Zentrum von Kempowskis viele tausend Seiten und zehn Bände zählenden Werks, dessen ersten vier Bände 1993 veröffentlicht wurden; und es bildet nun auch, allerdings anders als ursprünglich geplant, den dieser Tage veröffentlichten Abschluss: „Abgesang 45“.
Dessen Struktur folgt seinen Vorgängern: Der Band ist bestückt mit Einträgen aus privaten oder veröffentlichten Tagebüchern, mit Zeitungsartikeln, Briefen, Radioreden; der äußere Rahmen folgt dem chronologischen Prinzip – dieses Mal sind es die Tage 20. April, 25. April, 30. April sowie der 8./9. Mai – und der innere einem geografischen; und gleichberechtigt wird hier Geschichte von oben und von unten erzählt und dokumentiert: Es erheben Normalsterbliche ihre Stimme und Personen der Zeitgeschichte, Politiker, Militärs oder Schriftsteller. Am 25. April etwa schreibt ein unbekannter, 1945 gestorbener Arzt aus Wittstock an der Dosse über „Trecks, die nach Norden ziehen“, über durch Wittstock marschierende weibliche KZ-Häftlinge und über seinen Versuch, Verletzte in einem Viehwagen zu versorgen: „Ein Bild des Elends: Auf beiden Augen blind, ein Bein amputiert, Lungenschuß mit Bluthusten und hektischem Aussehen. Eine Frau mit Armschuß. Daneben ihr Kind mit einem Rückenschuß und beginnendem Scharlach. Ein 16-jähriger Südtiroler, beide Beine amputiert. Ein Toter mit Decken zugedeckt. Armamputierte. Ein Schädelschuß.“, usw. Auf den Arzt folgt der mutmaßliche Kommunist Bertram Bietz, der über den Marsch des KZs Sachsenhausen Richtung Mecklenburg schreibt: „Die Kolonnen marschieren nicht mehr, sie schieben sich nur noch vorwärts. Für die Schwachen, Zurückbleibenden ist die Frage des ‚Wie enden‘ gelöst – Genickschuss.“ Und kurz darauf, nach dem Erfahrungsbericht eines weiteren Kommunisten aus dem Zuchthaus Brandenburg, so will es Kempowski, gibt es abschließend eines der vielen Zitate von den Lagebesprechungen in Hitlers Berliner Führerbunker. „Hitler: Ich glaube, es ist der Moment gekommen, wo die anderen sowieso aus Selbsterhaltungstrieb diesem maßlos gewordenen proletarisch-bolschewistischen Koloß und Moloch entgegentreten werden.“
Das Tolle an diesem „Abgesang 45“ ist, wie beim „Echolot“ überhaupt, dass Kempowski aus diesem scheinbar nicht zu bändigenden Material große und auch kleinere Motive herauszuschälen versteht. Souverän, gewissermaßen mit heißem Herzen, aber kühlem Kopf arrangiert er seine Themenkomplexe und macht so aus jedem Teil des „Echolots“ auch einen eigenständigen, in sich abgeschlossenen. „Abgesang 45“ ist Schlussakkord, Höllenfahrt und strukturiertes Chaos. Er handelt im Kern von Flucht und totaler Orientierungslosigkeit, von den sich aufeinander zubewegenden russischen und amerikanischen Soldaten, die sich erstmals an der Elbe treffen und die die Deutschen zwischen sich zerreiben, von letzten Tagen im Führerbunker, die eine einzige Groteske sind, und natürlich vom Waffenstillstand am 8. Mai 1945. Letzterer schiebt den Fokus, der zu Beginn auf Berlin und Umgebung lag, endgültig in die ganze Welt.
Erstaunlich ist zudem, wie schnell beim Lesen ein Erzählfluss entsteht, der durch die vielen, völlig unterschiedlichen Schreibweisen nur an wenigen Stellen ins Stocken gerät. Kempowski erzeugt Spannung solcherart, dass man „Abgesang 45“ am liebsten in einem Zug lesen möchte; der Band ruft Erschütterung hervor, Entsetzen, Fassungslosigkeit, er ist Lehrstück und Zeitdokument, und hin und wieder bewahrt Kempowski auch seinen Sinn für das Komische und Absurde. In „Abgesang 45“ steht der große Irrsinn auf einer Höhe mit dem Banalen, die immer noch gläubigen, aber höchst realen Hitlerjungs auf einer Höhe mit den wie Gespenster agierenden, höchst irrealen Personen der NS-Führungsriege, die nach Hause an ihre Lieben schreibenden russischen Soldaten auf einer Höhe mit ihren marodierenden Landsleuten, mit GIs, mit französischen SS-Leuten, mit deutschen Kriegsgefangenen, mit Thomas Mann, Mussolini, Ernst Jünger, Stalin und und und.
Natürlich entsteht auch hier wieder der Eindruck, als wolle Kempowski dem Wahnsinn der NS-Zeit und des Zweiten Weltkrieges den eigenen Wahnsinn, die eigenen Grandiositätsfantasien gegenüberstellen, als wolle er den Wahnsinn dieser Zeit nicht nur bis ins Detail abbilden, sondern auch bezwingen und die acht Jahre Haft in Bautzen, die Initiation für sein gesamtes Werk, förmlich aus sich heraustreiben. Er selbst nennt als Hauptmotiv in seinen sinnigerweise mit „Culpa“ übertitelten Notizen das Abtragen von Schuld: der individuellen, nämlich überlebt zu haben, und der kollektiven, der der Deutschen.
Sekundär ist es dabei irgendwann, dass zumindest die gern von Kempowski angeführte „Gleichzeitigkeit“ zum einen, wie er selbst weiß, „banal“ ist und erst interessant wird „durch die Schattierung; die Variante, die Gegenüberstellung“; zum anderen ist sie oft nur eine behaupte– denn tatsächlich schnell und genau an den jeweiligen Tagen Geschriebenes steht im „Echolot“ neben oder hinter den Wochen, Monate oder gar Jahre später notierten Reflektionen mit ihren vielen Erinnerungsfiltern und Modulationsrädchen. Das ist vielleicht der Authentizität nicht zuträglich, sorgt für ein unruhiges Gefälle, lässt aber den Pfeil der Erinnerung erst recht in die Tiefe der Zeit zeigen: Das „Echolot“ ist ein komplexes Erinnerungsbuch, das zu guter Letzt trotz seines Volumens ungemein komprimiert ist. Wie viele Geschichtsbücher es wohl braucht, aber auch wie viel fiktive Literatur, die sich allesamt aus unterschiedlichster Perspektive mit dieser Zeit beschäftigen, um in etwa diesen Facettenreichtum abbilden zu können?
Umso verwunderlicher, dass Kempowski seit der Veröffentlichung des ersten Teils die Skepsis begleitet, ob er sich Autor des Ganzen nennen darf. Da er angeblich nur ein Kompilator ist, der Herausgeber einer Anthologie, ein geschickter zwar, aber mehr eben nicht. Und ob das nun Literatur ist, Geschichtschreibung oder Guido Knopp auf Papier? Gerade in Zeiten von Roman-Schreibfabriken wie John Irving, Neal Stephenson oder Stephen King, in Zeiten, da der Autor schon mal als abgeschafft galt, in Zeiten, in denen sich gerade bezüglich der Erinnerung und Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs sich die Genres aufs heftigste miteinander vermengen?
Da dürfte es eigentlich nicht mal mehr eine akademische Frage sein, ob Kempowski nun der „Autor“ dieses „kollektiven Tagebuchs“ ist oder nicht. Zumal er sich selbst des Problems genauso bewusst ist, wie er um die vermeintliche Eindimensionalität von tausenden Seiten reinem „Echolot“ gewusst hat. Wie man „Culpa“ entnehmen kann, war anfangs geplant, ein „Kontrabuch“ zum „Echolot“ herauszugeben, einen Kommentar aus der Jetztzeit beizulegen, eine zusätzliche „Sprechspur“ (so der geplante Titel), die auch mal das komplette TV-Programm eines Tages im Vergleich zum entsprechenden „Echolot“-Tag sein sollte. Doch kam Kempowski davon wieder ab, denn, wie er am 11. 6. 1992 notiert, „selbst wenn es mir gelänge, das, was ich eigentlich zu geben habe, an einem einzigen Echo-Tag zu realisieren, dann bleiben da immer noch 4.000 Seiten, die zu realisieren wären. Dazu fehlt mir Energie, Überzeugung und wahrscheinlich auch der Grips. So fühle ich mich nun frei von der Sache. Erlöst.“
Und so konnte er sich konzentriert seiner meisterhaften Kompositionstätigkeit widmen, auf das Erstellen von überraschenden Sinnzusammenhängen. Wie etwa zu Beginn des 25. Aprils, an dem plötzlich ein paar heitere Naturbetrachtungen überwiegen, abgeschlossen durch eine Tagebuchsentenz des italienischen Schriftstellers Cesare Pavese: „Den Weg gehen und auf Wunderdinge treffen, das ist das große Motiv – besonders deins.“ Paveses erratisch-kryptische Eintragung erschließt sich tatsächlich erst auf der Grundlage der vorher gehörten Stimmen.
Man könnte auch auf die Fotos verweisen, die ausschließlich die Porträts von Nazi-Größen zeigen, lebendig, nach ihrer Hinrichtung, als knöcherner Schädel oder als Röntenaufnahme. Ja, man könnte die Geschichte des russischen Soldaten Leonid Woitenko erzählen, die den Epilog und damit das ganze Werk beschließt: die Geschichte eines eifrigen Tagebuchschreibers, der sein Tagebuch im Eifer des Gefechts verlegt und dann stirbt; das Tagebuch findet sich dann aber doch wieder an. Und man könnte davon berichten, wie viele der kleinen, von Sternen abgesetzten Aufzeichnungsgruppen sich inhaltlich schön fügen, wie manche Stimme nicht nur Prominenter wiederkehrt und auch manches Bild – und trotzdem erschließt sich alles nicht immer gleich beim ersten Durchgang, wirkt manches zufällig und ist es wahrscheinlich gar nicht.
Da ahnt man, wie schwer die Entzifferung der Feinstruktur dieses großen Textgewebes sein wird, wie viel es da für Literatur- wie Geschichtswissenschaften noch zu tun gibt. Man muss kein Prophet sein, um sehen zu können, dass es die Zeit, die Kempowski für „Echolot“ gebraucht hat, noch einmal brauchen wird, um diese Leistung ermessen und würdigen zu können. Und Walter Kempowski? Der begibt sich unermüdlich weiter unterwegs an den Ort, wo die Toten sind, macht sich weiter an die Bergung von „Erinnerungskristallen“, an sein aus mehr als 8.000 Tagebüchern bestehendes Archiv, ganz zu schweigen von seinen eigenen, unveröffentlichten Tagebüchern. Denn wie schreibt er in „Culpa“: „Texte streichen, das hieße Menschen streichen.“
Walter Kempowski: „Das Echolot. Abgesang 45“. Knaus Verlag, München 2005, 494 Seiten, 49,90 Euro Walter Kempowski: „Culpa. Notizen zum Echolot“. Knaus Verlag, München 2005, 384 Seiten, 19,90 Euro