Ist die Visa-Debatte überhitzt?

ja
Die Visa-Affäre ist eine Phantomdebatte über die Vergangenheit. Denn die Missstände sind längst abgestellt. Auch neue Erkenntnisse sind nicht zu erwarten. Schäden in Milliardenhöhe scheinen ebenfalls nicht entstanden zu sein.

Zugegeben, die Botschaft in Kiew hat zwischen 2000 und 2002 leichtfertig Visa ausgestellt. Und ja, davon haben Schleuserbanden profitiert. Außerdem hat es tatsächlich zu lange gedauert, bis das Auswärtige Amt auf die Versäumnisse reagiert hat.

Nur: Die Verben dieser Sätze stehen nicht umsonst in der Vergangenheitsform. Die Visapannen in Kiew sind fast drei Jahre her. Momentan ereignet sich ein Pseudoskandal mit Spätzündung: Die Aufregung ist groß, aber der Aufreger ist längst verschwunden. Nun ließen sich die Rücktrittsforderungen, der Auflauf von Kameras und Mikrofonen, verstehen, wenn wenigstens neue Erkenntnisse zu erwarten wären. Doch die Visa-Affäre umweht kein sensationelles Geheimnis. Die meisten Details sind bekannt und sie sind längst öffentlich. Denn inzwischen gab es Prozesse, der Bundestag stellte große Anfragen, die Medien berichteten gelegentlich. Auch die angeblich so exklusiven Warnhinweise und Dossiers des Bundeskriminalamts zirkulieren schon seit Monaten durch die Redaktionen. Doch lange interessierte das Thema nicht wirklich – bis die Union einen Untersuchungsausschuss beantragte.

Es ist das gute Recht der Opposition, einen Skandal zu proklamieren. Aber es wirkt seltsam, wenn das parlamentarische Rollenspiel von den Zuschauern plötzlich ernster genommen wird als von den Akteuren. Die Union selbst hat lange geschwankt, ob sie nicht lieber die Mautpannen in einem Untersuchungsausschuss verfolgen sollte.

So beliebig die ausgewählte Panne war – die anschließende Skandalinszenierung folgte dem klassischen Muster. Der Trick ist simpel und funktioniert immer, um Erregung zu organisieren: Die Union musste nur behaupten, durch die Kiew-Visa seien „Schäden in Milliardenhöhe“ entstanden. Ja, wo denn?

Bisher jedenfalls konnten die Milliardenschäden nicht lokalisiert werden. So weist etwa die Kriminalitätsstatistik nicht aus, dass besonders viele Ukrainer straffällig wurden. Auch der BKA-Lagebericht Menschenhandel kann nicht erkennen, dass vermehrt Ukrainerinnen zur Prostitution gezwungen wurden. Das deckt sich mit den Erfahrungen der Beratungsstellen. Bei ihnen habe sich bisher nur eine Ukrainerin gemeldet, um ihrem Zuhälter zu entkommen. Ähnlich unspektakulär ist es bei der Schwarzarbeit: Die Finanzkontrolleure sind bisher keinem Massenandrang aus der Ukraine begegnet, stattdessen werde die meiste Schwarzarbeit von Inländern verrichtet.

Aber solche Indizien können die Erregung nicht bremsen. Wenn die Statistiken nicht zum gewünschten Skandal passen, dann muss es eben an den Daten liegen. Kein Wort ist momentan derart beliebt wie die „Dunkelziffer“, um die unsichtbaren Milliardenschäden zu erklären.

Seltsam ist auch der Schadensbegriff, der die Debatte beherrscht. Wie selbstverständlich gehen die Deutschen davon aus, dass nur sie als Opfer in Frage kommen. Das kann man auch anders sehen. Beispiel Prostitution: Wenn Ukrainerinnen ihren Körper anbieten, dann meist nicht, weil Menschenhändler sie angelockt haben. Die Frauen tun es freiwillig, wenn man es freiwillig nennen kann, dass sie keine andere Möglichkeit sehen, der Armut ihrer Heimat zu entkommen. Diese Auswegslosigkeit macht die Ukrainerinnen gefügig gegenüber den deutschen Freiern. Sie akzeptieren jeden Dumpingpreis.

Aber nicht nur die behaupteten Schäden eignen sich, um einen Skandal zu inszenieren. Genauso beliebt ist ein zweiter Topos: der Verstoß. Inzwischen prüft die EU-Kommission, ob die Visa-Erlasse von 1999 und 2000 dem Schengen-Abkommen widersprechen. Es war die konservative EVP, die diese Überprüfung beantragte, und es ist nur legitim, dass die Union auch ihre europäischen Parteigenossen im Kampf gegen Rot-Grün einspannt. Vielleicht wird Brüssel die Visapraxis ja tatsächlich rügen. Aber es ist erstaunlich, welche Bedeutung eine mögliche Abmahnung in der deutschen Diskussion erlangt. Als wäre es die maximale Katastrophe, gegen EU-Recht zu verstoßen. Dabei geschieht das ständig. Ob Maut, Dosenpfand oder das Landesbankengesetz: Die EU-Kommission ist häufig damit beschäftigt, deutsche Regelungen zu überprüfen. Das sorgt kaum je für eine solche nationale Erregung.

Die Visa-Debatte hat eine neue Qualität der Skandalisierung erreicht. Es ist die überhitzte Skandalisierung eines vergangenen Verfahrensfehlers. Sollte das künftig der Maßstab sein, kann alles zum Skandal werden – es muss nur die Mischung von Sex, Crime und Prominenz versprechen.

Fotohinweis: ULRIKE HERRMANN, 41, ist Parlamentskorrespondentin der taz. Vorher betreute sie die Meinungsseite. Im Herbst berichtete sie aus den Niederlanden über den Mord an Theo van Gogh und die dortige Mulitkulti-Debatte.