Lohn der Lohnpolitik

Das von Rot-Grün diskutierte Konjunkturprogramm bringt zu wenig Arbeitsplätze. Lieber sollte die Bundesregierung in der Tarifpolitik auf der Seite der Gewerkschaften stehen

Wenigstens rot-grüne Regierungen sollten das Ziel der Haushaltssanierung undogmatischer handhaben

5,2 Millionen Arbeitslose schockierten vergangene Woche die Öffentlichkeit, mitten in der unangenehmen Visa-Affäre und kurz vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, die allenthalben als Richtungsentscheid für die nächsten Bundestagswahlen gilt. Jetzt braucht die Regierung schnell irgendeine Heilsbotschaft. Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement, dem Arbeitnehmerflügel der SPD und auch manchen Grünen ist da sofort ein Konjunkturprogramm eingefallen. Ob das allerdings hilft, ist mehr als fraglich.

Die Fixierung auf ein schnelles Konjunkturprogramm, das der rot-grünen Regierung aus der Patsche helfen und die konjunkturelle Depression heilen möge, ist der Kurzatmigkeit der Politik geschuldet. Isoliert kann es nicht viel bringen. Man kann es machen oder auch lassen, am langen Lauf der ökonomischen Entwicklung wird es wenig ändern.

Bundeskanzler Gerhard Schröder, Wirtschaftsminister Wolfgang Clement und Finanzminister Hans Eichel diskutieren einige Maßnahmen hin und her. Alles zusammengerechnet, ist von einer Summe von vielleicht sieben Milliarden Euro, verteilt auf drei Jahre, die Rede. Aber selbst ein Programm mit zehn Milliarden Euro für ein Jahr, wie es Gustav Adolf Horn vom gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung vorschlägt, würde die deutsche Wirtschaftsleistung, die vergangenes Jahr 2.177 Milliarden Euro ausmachte, nur um rund ein halbes Prozent erhöhen. Damit könnte das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr vielleicht 1,5 Prozent erreichen – zu wenig, um zusätzliche Jobs in nennenswerter Größenordnung zu schaffen.

Denn der technische und organisatorische Fortschritt steigert die Arbeitsleistung der Beschäftigten. Im vergangenen Jahr stieg die Produktivität laut Bundesamt für Statistik um 1,2 Prozent. Weil weniger Menschen mehr Produkte herstellen, können die Firmen rationalisieren und Stellen einsparen. Dank eines Konjunkturprogramms würde der arbeitsplatzschaffende Wachstumseffekt wahrscheinlich nur leicht über der jobvernichtenden Wirkung der Produktivitätssteigerung liegen. Im Saldo entstünden nur wenige zusätzliche Arbeitsplätze. Ein Konjunkturprogramm in dem diskutierten Umfang dient also ganz wesentlich dazu, so zu tun, als ob man etwas täte.

Das heißt nicht, dass konjunkturfördernde Maßnahmen der Regierung in jedem Fall Teufelszeug sind. Sie können vorhandene Stellen sichern helfen und die Stimmung positiv beeinflussen. Aber sie sollten eingepasst sein in ein größeres Konzept, das an die tiefer liegenden Probleme der deutschen Wirtschaftsentwicklung anknüpft.

Auch Wirtschaftswissenschaftler, die eher den Unternehmer-Standpunkt vertreten, räumen inzwischen ein: In erster Linie ist es zurzeit die schwache Binnennachfrage, die höhere Wachstumsraten in Deutschland verhindert. Dies analysierte etwa der Sachverständigenrat für Wirtschaft der Bundesregierung. Einfach gesagt: Das Ausland kauft deutsche Produkte en masse, die 80 Millionen Bundesbürger aber halten sich zurück. Und warum? Weil sie meinen, zu wenig Geld auf dem Konto zu haben. Ein probates Mittel dagegen wäre es, die Löhne und Gehälter der Beschäftigten stärker steigen zu lassen, als es in den vergangenen Jahren geschehen ist.

Anders als vor zehn oder 20 Jahren wäre dies heute ohne größere Gefahren für die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft auch möglich. Das liberale britische Wirtschaftsmagazin Economist hat unlängst die Frage gestellt: „In welchem Land würde ein Marsmensch investieren – in den USA oder Deutschland?“ Antwort: „In Deutschland.“ Denn im Vergleich zu den wichtigsten Konkurrenz-Ökonomien, etwa den USA, Frankreich oder Großbritannien, sind die Arbeitskosten in Deutschland in den vergangenen Jahren stark gesunken.

Deutschland ist wettbewerbsfähiger denn je. Dass das Gejammer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), der Metallunternehmer und der von ihnen finanzierten Lobby-Truppe „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ überholt ist, zeigen schlicht die Zahlen: Die deutschen Unternehmen haben im vergangenen Jahr Waren und Dienstleistungen im Wert von 731 Milliarden Euro exportiert und damit den höchsten Außenhandelsüberschuss aller Zeiten erwirtschaftet. Das gelingt keiner Ökonomie, die unter zu hohen Lohnkosten leidet.

Die Beschäftigten haben zu diesem Erfolg beigetragen, indem sie sich jahrelang mit geringen Lohnzuwächsen zufrieden gaben. Dem von den Unternehmen aufgebauten Druck liegt die einseitige Sichtweise zugrunde, Beschäftigte seien nur Produzenten. Das ist eine verständliche, wenngleich falsche Verkürzung in Zeiten der Globalisierung, da Firmen sich mit weltweiter Konkurrenz herumschlagen müssen. Beschäftigte sind eben auch Konsumenten, und knapp zwei Drittel der in Deutschland hergestellten Produkte werden in Deutschland verkauft. Die Herrschaft des Weltmarktes ist so betrachtet eine Fiktion. Zu Hause spielt die Musik.

Das Ausland kauft deutsche Produkteen masse, die 80 Millionen Bundesbürger halten sich zurück

Diesen Zusammenhang sollte sich die rot-grüne Regierung wieder einmal klar machen – anstatt ein Konjunkturprogramm übers Knie zu brechen. Keinesfalls sind ihr in der Lohnpolitik die Hände gebunden. Zwar verhandeln nicht die Bundesminister über die Löhne in der Privatwirtschaft, sondern die Tarifparteien, also Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften. Mit gezielten Äußerungen über den wirtschaftlichen Nutzen moderater Lohnerhöhungen könnte Rot-Grün aber durchaus öffentlich Position beziehen und versuchen, den politischen Diskurs zugunsten der Gewerkschaften zu beeinflussen. Dies wäre – wohlgemerkt – keine in erster Linie gewerkschaftsfreundliche Haltung, sondern eine, die im Sinne gesamtwirtschaftlicher Rationalität argumentierte.

Anders sieht es im öffentlichen Dienst aus. Für 3,2 Millionen Arbeiter und Angestellte bei Städten, Ländern und dem Bund ist der Staat der Arbeitgeber. Hier können die Regierungen selbst Lohn- und damit auch Wirtschaftspolitik machen. Bezogen auf die 2,3 Millionen Beschäftigten beim Bund und den Kommunen hat Innenminister Otto Schily die Möglichkeit im vergangenen Februar verpasst, etwas für die Nachfrage zu tun. Die Tarifverhandlungen für die 900.000 Arbeiter und Angestellten der Länder hingegen stecken noch in den Anfängen. Hier wäre es durchaus angebracht, wenn zumindest die Landesregierungen mit sozialdemokratischer und grüner Beteiligung das Ziel der Haushaltssanierung etwas undogmatischer handhaben würden.

Ein Nachteil dieser Strategie besteht in ihrer Langfristigkeit. Den wirtschaftspolitischen Mainstream und den politischen Diskurs zu ändern dauert ein paar Jahre, die eine angeschlagene Regierung erst einmal durchstehen muss. Der Lohn einer gesamtwirtschaftlich orientierten Lohnpolitik würde aber darin bestehen, dass sie ungleich wirkungsvoller wäre als ein Konjunkturprogramm. HANNES KOCH