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Archiv-Artikel

Die schwierige Kunst, das Hirn zu entmachten

Zum ersten Mal ist das „Institute for Living Voice“ in Berlin – und zu Gast bei der Maerzmusik. Wer an seinen Workshops teilnimmt, wird bis zur Konzertreife getrieben – garantiert! Der Countertenor und Coach Andrew Watts über den Zusammenhang zwischen Singen, Denken und Sex

„wawawawawewewewewe“, intoniert Andrew Watts leicht lallend, virtuos wunderbar warme Töne rauf und runter singend. Sein Kiefer klappt ganz locker auf und zu. Dabei steht er aufrecht und blickt so stolz in das gegenüberliegende Nichts einer kahlen Wand, als würde ihm ein tausendköpfiges Publikum lauschen. Seine Hände dirigieren Kreise in die Luft, seine Hüften schwingen leicht nach links und rechts, und auch sein ausladender Bauch am sonst nicht monströsen Körper ist immer in Bewegung: Er schnellt vor und zieht sich zurück, hüpft auf und ab, als wäre er bewohnt und führte ein Eigenleben.

Sieben Leute stehen um ihn herum und versuchen, ihn zu imitieren. Während sich ihre Stimmen in die Höhe schrauben, ziehen sie als Hilfestellung mit den Händen ein imaginäres Kaugummi vor der Brust in die Länge – ein Tipp von Andrew Watts, das soll das Körpergefühl stärken. Besonders entspannt sehen sie allerdings nicht aus. Schließlich bricht der Maestro ab. Sein Bauch lässt sich sofort behaglich hängen. „Wisst ihr, Singen hat viel mit Sex zu tun“, sagt er – und Singen ist sein Beruf. „Wenn ihr singt, seid ihr vollkommen nackt und könnt euch nur auf euren Körper verlassen. Wenn ihr verkrampft, funktioniert das nicht.“

Andrew Watts gibt im Rahmen des Festivals für aktuelle Musik, „Maerzmusik“, im Backstage-Bereich des Berliner Festspielhauses einen Workshop. Obwohl er erst Ende 30 ist, unterrichtet er bereits als Professor für Gesang an der Guildhall School of Music in London und stand schon in allen wichtigen Opernhäusern in Europa und Amerika auf der Bühne. Seine Stimmlage: Countertenor – er singt hoch wie eine Frau. Opernrollen oder kirchliche Werke, die bis hinein ins 18., zum Teil noch bis ins 19. Jahrhundert von Kastraten gesungen wurden, kann er mühelos übernehmen. Nun ist er zusammen mit sieben anderen weltbekannten Stimmartisten nach Berlin gekommen, um seinen Spaß am Gesang zu vermitteln. Ob Laie oder Profi, jeder kann mitmachen – und sich in einem abschließenden Konzert öffentlich präsentieren.

Veronica – schließlich wird hier geduzt – ist eine der insgesamt knapp 60 TeilnehmerInnen und extra aus London angereist. Dass sie einfach drauflossingen soll, ist der 28-Jährigen völlig neu, dazu ist sie eigentlich viel zu schüchtern. „Ich habe so lange den Mund gehalten, ich kann nicht alleine singen“, sagt sie am ersten Tag. Ihre Stimme ist leise und zerbrechlich. In eigener Initiative hätte sie sich nie bei einem solchen Workshop angemeldet. Es ist das Geschenk einer Freundin. Dass sie nun hier steht, ist noch immer eine Überraschung. Andrew Watts sagt ihr: „Stell dir vor, in deinem Bauch spielt eine Rockband und dein Mund ist das Fenster. Wenn du das Fenster nicht richtig aufmachst, kann man nicht das ganze Spektrum der Musik hören.“

Ganz anders ist das bei Gunnlaug. Sie ist eine kleine Person mit einer klaren hellen Stimme, die sich gerne präsentiert. Gunnlaug ist auch 28 Jahre alt und kommt aus Reykjavík. Sie hat schon ähnliche Workshops besucht. „Diese Kurse haben eine neue Welt für mich eröffnet“, schwärmt sie. Eine, die nichts mit dem klassischen Gesang und seiner komplizierten Technik zu tun hat, wie sie in der Oper verlangt werde. Dafür interessiert sie sich nämlich gar nicht. Gunnlaug macht lieber ihr eigenes Ding. „Normalerweise imitiere ich Vogelstimmen oder andere Geräusche, die mir gefallen. Ich experimentiere mit Sounds, seit ich ein kleines Kind bin, und schreibe meine eigene Musik.“

So unterschiedlich die Workshop-Teilnehmer sind, sie haben doch etwas gemeinsam, findet Andrew Watts: Sie denken zu viel. Und das ist für ihn die Wurzel allen Übels. Er breitet die Arme aus, als wollte er seine Eleven allesamt umarmen, und sagt mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht: „Fuck off! Ihr müsst zu Fuck-off-Sängern werden!“ Andrew Watts meint damit, dass jeder sich präsentieren soll, ohne Scheu und Angst, sich zu blamieren. „Vergesst, was ihr gelernt habt. Das ist alles Bullshit. Wir wollen hier nicht über die 27 Zungenmuskeln oder Lippenringe oder sonst was reden. Erlaubt euch einfach, zu tönen.“ Viele seiner Übungen sind dazu gedacht, „das Hirn zu verwirren“. Zum Beispiel müssen die Laiensänger einen nicht vorhandenen Bus besteigen und sich singend gegenseitig Geschichten erzählen ohne Worte zu benutzen. Zum Überlegen bleibt keine Zeit – Improvisation ist gefragt.

Niels macht den Busfahrer, er poltert, hupt, kriegt den Motor nicht an und tauscht mit dem Hintermann merkwürdige Schreie aus. Der 38-Jährige lebt in Berlin und hat schon Erfahrung mit dem Singen. Er nimmt sogar privat Unterricht – und er denkt besonders viel. Vor allem im Gesicht ist er zu verspannt. Andrew Watts hat ihn prompt auf dem Kieker. „Steck dir mit der einen Hand zwei Finger in den Mund und halte mit der anderen ein Ohr zu“, sagt er zu Niels. Als sich die beiden Männer mit den Fingern im Mund und der Hand am Ohr gegenüberstehen, beginnt Andrew Watts zu singen, fünf Töne aufwärts und zurück: „uiuiuiui-ha-ha-ha-ha-ha“. Niels tut es ihm nach, nimmt dann beim Singen die Hand aus dem Mund und erntet schließlich anerkennende Blicke aus dem Plenum. Endlich, seine Stimme war für einen kurzen Augenblick tatsächlich befreit, konnte voll und unbemüht klingen. Und auch Veronica hat am letzten Tag ihr Mund-Fenster aufgemacht und laut und alleine gesungen. Hoffentlich macht sie es so schnell nicht wieder zu.

ANNA STARK

Heute um 17 Uhr stellen die Teilnehmenden ihre Stimmen in dem Konzert „Voices & Choices“ im Haus der Berliner Festspiele vor. Darunter sind auch Gunnlaug und Niels. Das Programm reicht von einer Bandsession über Vokalimprovisationen und Karaoke bis hin zum Vortrag klassischer Lieder. Schaperstraße 23, der Eintritt ist frei.