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Archiv-Artikel

„Wer von uns bekommt keine Schläge?“

Marieluise Beck, die Integrationsbeauftragte des Bundes, besucht das Interkulturelle Frauenhaus. Sie will wissen, was wirklich passiert

„Deutsche Männer nutzen das Unwissen und die Rechtlosigkeit der Frauen aus“

VON SABINE AM ORDE

Marieluise Beck will etwas lernen. Deshalb, so sagt die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, sei sie an diesem Morgen in das Interkulturelle Frauenhaus gekommen. „Es wird derzeit so viel über Gewalt an Migrantinnen, über Ehrenmorde und Zwangsheirat gesprochen und geschrieben“, sagt sie. „Ich möchte wissen, was wirklich passiert.“

Marieluise Beck sitzt in einem kleinen Raum am Kopfende eines ovalen Tischs mit zwei dicken Tulpensträußen, mit Kaffee, Wasser und Keksen darauf. An der Wand hängen bunte Kinderzeichnungen. Wenn es keinen Besuch gibt, wird hier der Nachwuchs der Hausbewohnerinnen betreut. Rund um den Tisch drängen sich in zwei Reihen mehr als 20 Migrantinnen, zwei von ihnen haben Babys im Arm, zwei sind schwanger. „Es sind ganz viele unserer Bewohnerinnen gekommen“, sagt Louise Baghramian, eine der beiden Leiterinnen des Hauses, erfreut.

Insgesamt gibt es hier seit vier Jahren Platz für 50 Frauen und Kinder, die Hälfte von ihnen lebt im eigentlichen Frauenhaus, für die anderen gibt es zehn Wohnungen. Das sei wichtig, sagt Louise Baghramian, weil die Frauen oft sehr lange im Frauenhaus bleiben.

Marieluise Beck stellt Fragen, am Anfang antworten nur die beiden Leiterinnen, eine Mitarbeiterin, eine Vorstandsfrau des Hauses. Sie berichten von aufenthaltsrechtlichen Problemen, mangelndem Opferschutz, fehlender Integration. Die Frauen um den Tisch schweigen, in einer Ecke wird ins Türkische übersetzt.

Dann meldet sich Maria* zu Wort. Ihre Geschichte passt nicht in das Muster, das derzeit beim Thema Gewalt an Migrantinnen durch die Medien gezeichnet wird. Marias Mann ist weder Türke noch Araber, er ist auch kein Muslim. Marias Mann ist Deutscher.

Er hat sie geschlagen und missbraucht, nach einem Jahr wollte die Russin weg von ihm. „Da hat er mir gedroht: Wenn du mich verlässt, dann musst du zurück, und dein Kind wirst du auch verlieren“, sagt die Akademikerin, die in ihrer Heimat einen Doktortitel gemacht hat. „Ich wusste nichts.“ Aus Angst blieb sie bei ihm. „Deutsche Männer nutzen das Unwissen und die Rechtlosigkeit der Frauen aus“, wirft eine Mitarbeiterin ein. Ein Drittel der Migrantinnen, die in das interkulturelle Frauenhaus kommen, sind mit Deutschen verheiratet, so schätzen die Leiterinnen.

Am Tisch sitzt auch Zeynep*, eine junge Frau mit Nasenpiercing und langem, dunklem Haar. Zeynep ist in der Türkei aufgewachsen. Ihren Mann, einen Deutschtürken, kannte sie bei der Hochzeit kaum. Ihre Eltern hatten die Ehe arrangiert. Zeynep kam nach Deutschland, und dann begann ihr Elend. Nach anderthalb Jahren hatte der Mann genug von ihr. Er reiste mit ihr in die Türkei, dort nahm er ihr den Ausweis weg und verschwand.

„Haben Ihre Familien Ihnen geholfen?“, fragt Marieluise Beck. Sie fragt häufig nach, wenn etwas unverständlich ist. Das macht sie klar und mitfühlend. Die Frauen antworten ihr offen. Zeynep suchte Hilfe bei ihren Eltern. Doch die Mutter sagte nur: „Wer von uns hat keine Schläge bekommen?“ Und der Vater machte ihr klar, dass eine Scheidung ausgeschlossen sei.

Zeynep ging zurück nach Deutschland. Das Schloss an ihrer Wohnung war ausgetauscht, ihr Mann hatte bereits die Ausländerbehörde über die Trennung informiert. Weil die Ehe zu diesem Zeitpunkt erst anderthalb Jahre bestand, hatte die junge Türkin kein eigenständiges Aufenthaltsrecht. „Ich muss beweisen, dass er mich geschlagen hat“, sagt sie auf Türkisch. Die Frau, die neben ihr sitzt und ihr immer wieder die Hand streichelt, übersetzt. „Aber wie soll man das beweisen?“, sagt sie. Zeynep hat Tränen in den Augen.

Eine Frau am Tisch beginnt zu weinen, hastig steht sie auf und verlässt den Raum. Andere schnäuzen sich die Nase, wischen sich die Tränen mit den Fingern aus dem Gesicht. Jede Erinnerung droht – zumindest für einen Moment – den Frauen den Boden unter den Füßen wegzureißen. Das furchtbare Gefühl des Ausgeliefertseins ist dann wieder da.

Als Songül* elf war, kam sie mit ihrer Familie nach Westdeutschland. Mehr als vier Jahre lang hatte die Frau mit den kurze, dunklen Haaren und dem resoluten Auftreten einen deutschen Freund. Heimlich. Dann bekamen ihre Eltern Wind von der Beziehung. Und entschieden, ihre Tochter in die Türkei zu verheiraten. Songül wehrte sich, schließlich haute sie von zu Hause ab.

Eine Sozialarbeiterin riet ihr, nach Berlin zu gehen. Die Familie des Freundes hat sie dabei finanziell unterstützt. Kontakt zu ihm hat sie trotzdem keinen mehr. „Ich habe alle verloren: meine Familie, meine Freundinnen, meinen deutschen Freund“, sagt Songül. „Das ist hart, aber man kann damit leben.“

Die Türkin wohnt nicht mehr im Frauenhaus, sie hat jetzt eine eigene Wohnung, macht eine Ausbildung, will sich einbürgern lassen. Songül ist die einzige der betroffenen Frauen, die Forderungen an die Integrationsbeauftragte stellt: „Wir brauchen eure Unterstützung“, ruft sie mehrmals, „damit wir überhaupt eine Chance haben. Die deutsche Sprache ist dabei so wichtig! Ohne mein Deutsch hätte ich es nie geschafft.“

Viele der Frauen, die hierher kommen, können kaum oder nur ganz wenig Deutsch. Bis zum letzten Jahr gab es hier Sprachkurse. Die finanziellen Mittel dafür wurden gestrichen. „Die Frauen müssen aber eine Perspektive haben für die Zeit nach dem Frauenhaus“, sagt die Hausleiterin Louise Baghramian. „Es ist so wichtig, dass sie hier etwas Positives erleben und Erfolgserlebnisse haben.“

Esra* hat bereits mehrmals dazu angesetzt, etwas zu sagen. Jetzt sieht Marieluise Beck sie aufmunternd an. Zwischen Deutsch und Türkisch wechselnd, erzählt Esra stockend ihre Geschichte: Sie ist in Ankara aufgewachsen; als sie gerade 18 war, haben ihre beiden Brüder, die in Deutschland leben, sie mit einem deutschen Mann verheiratet. „Das war ein Geschäft unter Männern“, erklärt später eine Frauenhausmitarbeiterin. „Da ist Geld zwischen den Männern geflossen, das war ein Verkauf.“

Esra kam nach Deutschland. Was sie nicht wusste: Ihr Mann war aidskrank und suchte keine Gattin, sondern eine Pflegekraft. Doch Esra erschien ihm nicht die Richtige dafür zu sein. Er begann, sie zu schlagen, und schickte sie schließlich zurück in die Türkei. Zu ihrer Familie konnte sie nicht. Diese hätte eine Scheidung nicht akzeptiert. „Ihr Vater“, sagt die Sozialarbeiterin, „ist extrem gewalttätig.“ Die Mutter sei an den Folgen der Schläge gestorben. „Ich will hier bleiben“, sagt Esra am Ende ihrer Geschichte auf Deutsch. „Wo soll ich denn hin?“ Sie weint.

Marieluise Beck muss gehen, der nächste Termin wartet schon. „Denken Sie daran, dass Ihre Zukunft besser wird“, sagt sie den Frauen zum Abschied. „Den meisten von Ihnen bleiben noch 70 Jahre, schließlich sollen wir alle 90 werden.“ Gut gemeint, doch die Integrationsbeauftragte wirkt hilflos. Auf dem Flur spricht sie noch kurz mit den beiden Leiterinnen, dann verlässt sie das Frauenhaus. Marieluise Beck dürfte heute einiges gelernt haben. Vielleicht waren die Fakten nicht neu für sie. Aber sie haben Gesichter bekommen. Ob das Konsequenzen haben wird?

* Die Namen aller Bewohnerinnen des Frauenhauses wurden geändert