: Die armen Reichen
Das Konzept der relativen Armut hat sich überholt. Deutschland hat das noch nicht begriffen. Ausgerechnet Großbritannien zeigt, wie gut neue Ideen weiterhelfen können
Nein, Neues fällt den Akteuren als Antwort auf wachsende Ungleichheit nicht ein: Die FDP spricht von verfehlter Wirtschaftspolitik und weniger Staat, die Union bietet ihr Sofortprogramm gegen Arbeitslosigkeit auch als Maßnahme zur Armutsbekämpfung feil und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) ruft nach staatlichen Investitionen. Anlass der Debatte: der Zweite Armutsbericht der Bundesregierung.
Vor allem eines erhitzt die Gemüter: Die Armutsquote ist zwischen 1998 und 2003 von 12,1 auf 13,5 Prozent gestiegen. Schon vor der Vorstellung des 450-Seiten-Berichts im Sozialministerium vergangenen Mittwoch hatte der Paritätische Wohlfahrtsverband unter Hinweis auf den gestiegenen Anteil der Reichen am Gesamtvermögen bereits eine neue Umverteilungsdiskussion angestoßen. Der Kinderschutzbund forderte gar 300 Euro Kindergeld. Kurzum: Die Armutsdebatte ist oberflächlich und von reflexhaften Reaktionen geprägt.
Schuld daran ist nicht zuletzt unsere Begriff von Armut – er bezieht sich einseitig auf den Mangel an materiellen Ressourcen. Unser eigentliches Problem aber heißt soziale Ausgrenzung. Die findet aus vielerlei Gründen und in unterschiedlichen Lebensbereichen statt.
In Deutschland wird Armut als relativ definiert. Arm ist, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zu Verfügung hat – 2003 war das ein Betrag von 938 Euro. Gewiss, diese Armutsdefinition hat ihre Vorzüge. Sie erkennt an, dass menschliche Grundbedürfnisse über das physische Existenzminimum hinausgehen und von den Eigentümlichkeiten und dem materiellen Standard einer Gesellschaft abhängen. Auf der anderen Seite ist diese Definition vollkommen willkürlich. Bei wachsendem gesellschaftlichem Wohlstand steigt auch das Durchschnittseinkommen – und damit die Armutsgrenze. Relativ verstandene Armut lässt sich praktisch niemals beseitigen.
Die Armutsquote kann deshalb nicht mehr als ein grober Gradmesser von Ungleichheit sein. In konjunkturschwachen Zeiten mit hoher Arbeitslosigkeit steigt sie zwangsläufig, und sie wird 2005 durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe noch weiter steigen.
Dieses relative Armutskonzept verkennt, dass Lebensglück nicht unbedingt mit materiellen Ressourcen zusammenhängt. So lebt wohl ein großer Teil der Studenten in relativer Armut, aber mit jeder Menge Chancen, während das Leben vieler Menschen höherer Einkommensgruppen durch andere Missstände wie etwa Diskriminierung dauerhaft stark beeinträchtigt sein kann.
In Deutschland leiden die Menschen unterhalb der statistischen Armutsgrenze nur in seltenen Fällen Hunger; sie werden vom Staat mit Wohnung, Kühlschrank, ermäßigten Eintritten versorgt und besitzen Handy, Auto und Computer. Die heutige Unterschicht in Duisburg-Marxlohe, Berlin-Neukölln, Essen-Katernberg oder Hamburg-Wilhelmsburg leidet weniger an materieller Not als an „Armut im Geiste“: an mangelnder Bildung, Aufmerksamkeit, Lebensanleitung – kurz: an fehlenden Chancen.
Das Konzept relativer Armut ist also empirisch zweifelhaft und in der Sache unterkomplex. Nachhilfe könnte von der europäischen Ebene kommen: Innerhalb der EU hat das Konzept der „social exclusion“, der sozialen Ausgrenzung, die Armutsdebatte abgelöst. Armut und soziale Ausgrenzung werden zwar häufig synonym gebraucht, bezeichnen jedoch unterschiedliche Sachverhalte: Während Armut sich im Kern auf Ressourcenmangel bezieht, ist soziale Ausgrenzung eine multidimensionale Kategorie, die gesellschaftliche Teilhabechancen in den Mittelpunkt stellt. Vereinfacht gesagt gilt als sozial ausgegrenzt, wer nicht an den zentralen gesellschaftlichen Aktivitäten teilnehmen kann. Sei es zum Beispiel als Folge von mangelnder Bildung oder Diskriminierung, wegen Gesundheitsproblemen, schlechter Wohngegend oder eben aufgrund von Einkommensarmut. Soziale Ausgrenzung ist dabei ein Prozess, in dem sich Benachteiligungen in unterschiedlichen Lebensbereichen wechselseitig verstärken können.
Der Blick auf soziale Ausgrenzung ist die im 21. Jahrhundert notwendige Perspektivverschiebung. Diese Betrachtungsweise ermöglicht einen unverkrampfteren politischen Umgang mit dem Thema sozialer Benachteiligung, weil der Begriff der „sozialen Ausgrenzung“ nicht so stigmatisiert ist wie „Armut“.
Das Konzept erkennt an, dass eine Strategie zur „sozialen Inklusion“ eine Querschnittsaufgabe ist. Sie erfordert ressortübergreifendes Handeln unter Einbeziehung aller Akteure und staatlichen Ebenen – um die Teilhabechancen in unterschiedlichen Lebensbereichen zu verbessern.
Aber genau an dieser Stelle tut sich Deutschland mit seiner komplexen Staatsstruktur schwer. Auf Bundesebene steht einem abgestimmten Vorgehen das viel beklagte Ressortdenken entgegen: Abteilungen und Referate der Ministerien beschränken ihre Absprachen allzu häufig auf die Klärung von Zuständigkeiten, anstatt gemeinsam und strategisch zu planen. Auch existieren in der deutschen Ministerialbürokratie kaum zentrale Instanzen, die gemeinsames Handeln koordinieren. Erschwerend kommen die Kompetenzen und Mitbestimmungsmöglichkeiten der Länder und Kommunen hinzu. Einzig die traditionelle Einbindung der Wohlfahrtsverbände in den politischen Prozess kann als vorteilhaft für eine Strategie der sozialen Inklusion gelten.
Kein Wunder also, dass die Europäische Kommission den deutschen „Nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung“ im Rahmen der europäischen Berichterstattung für den Lissabon-Prozess wiederholt gerügt hat: Deutschland habe weder eine Strategie noch Ziele, koordiniere sich ungenügend, produziere nur ein „Konglomerat von Maßnahmen“.
Die Regierung Blair im zentralistischen Großbritannien beispielsweise hat es in dieser Frage viel einfacher. Die britische Bürokratie pflegt eine Kultur der Zusammenarbeit: Koordinierung ist eigenständiges Prinzip allen Verwaltungshandelns. Deshalb konnte Tony Blair 1997 ohne Schwierigkeiten eine Social Exclusion Unit aufbauen, die Politiken der sozialen Inklusion zwischen den Ministerien koordiniert. Zudem garantiert das parlamentarische System Großbritanniens eine Ein-Parteien-Regierung. Und die regionalen Gebietseinheiten verfügen über wenig Macht, sodass Labour sich 1999 das quantitative Ziel setzen konnte, die Kinderarmut bis 2010 zu halbieren.
Ein vorbildliches Beispiel britischer Inklusionspolitik sind die neuen „Early Excellence Centres“ in sozialen Brennpunkten: Diese Kindergärten machen den Kleinsten ein umfassendes Lernangebot und fördern gleichzeitig die Eltern – mit Gesundheits- und Erziehungsberatung, Koch- und Sprachkursen, gar Arbeitsvermittlung. So wird gebündelt, was die Schwächsten früher kaum erreichte.
MICHAEL MIEBACH