: Der Liebe und dem Radium auf der Spur
Zwischen Fakten und Fiktion: Per Olov Enquist stellt seinen neuen Roman über Marie Curie und Blanche Wittmann im Literaturhaus vor
von Carola Ebeling
„Es gibt immer einen Punkt, von dem aus die Landschaft der Erzählung überblickt werden kann. Wird dieser Punkt nicht wiedergefunden, hört die Geschichte auf.“ Der schwedische Autor Per Olov Enquist, der jetzt seinen neuen Roman Das Buch von Blanche und Marie im Literaturhaus vorstellt, ist in all seinen Büchern auf der Suche nach diesen Punkten, von denen aus die Entwürfe einer sagbaren Lebensgeschichte möglich werden. Er zeigt seine Figuren im Ringen um Sinn, um Zusammenhänge – um Eindeutigkeiten geht es ihm dabei nicht. In seinem aktuellen Roman ist Enquist den Geschichten von Marie Curie und Blanche Wittmann auf der Spur, einmal mehr Fakten und Fiktion miteinander vermengend.
Wir befinden uns am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert. Während Marie Curie, eine der wenigen Frauen in der Naturwissenschaft und zweifache Nobelpreisträgerin, sich der Erforschung des Radiums widmet, wird Blanche Wittmann als „Königin der Hysterikerinnen“ bekannt. Die eine forscht aktiv in einem kleinen Labor, die andere ist Objekt der Wissenschaft: Im „Schloss der verrückten Frauen“, der Salpêtrière in Paris, ist sie die Lieblingspatientin des Arztes Charcot. Ihre Auftritte in den öffentlichen Vorführungen der Hysterikerinnen sind die Aufsehen erregendsten; dramatische Inszenierungen der vermeintlichen „dunklen Seite der Weiblichkeit“, die es zu ergründen gilt. Soweit die Fakten.
Enquist führt nun beide Frauen zusammen, macht sie zu Freundinnen, zu Verbündeten in der Erfahrung der Liebe. Sein Ich-Erzähler ist im Besitz dreier Notizbücher, die Blanche hinterlassen hat. Sie hat ihnen den Titel „Fragebuch“ gegeben und unternimmt darin den Versuch, „eine Geschichte von der Natur der Liebe“ und damit zugleich ihre und Maries Geschichte(n) zu erzählen. Der Ich-Erzähler wiederum befragt das Geschriebene, zitiert Auszüge, um sie zu kommentieren, die Lücken mit möglichen Rekonstruktionen zu füllen. Durch diese doppelt gebrochene Perspektive hindurch erfahren die Lesenden von der Liebe Maries zu ihrem Mann Pierre Curie, von der Leidenschaft beider für das verzaubernde blaue Licht des Radiums, von dessen todbringender Kraft noch nichts zu wissen war.
Ein Leuchten, das zur doppelbödigen Metapher für die Liebe wird. Denn jene spätere zum verheirateten Kollegen Paul Langevin wird Marie Curie einer gnadenlosen öffentlichen Hetze aussetzen, ihre wissenschaftliche Karriere fast beenden – das ist historisch belegbar. Ihre ungeheure Kränkung angesichts des Verrats durch den Geliebten – dafür gibt es keine Quellen.
Blanches Geschichte ist die einer Selbstbehauptung angesichts der Vereinnahmung ihres Körpers als Objekt wissenschaftlichen und anderen Begehrens. Ihre erwiderte, von Enquist erdachte, Liebe zum Arzt Charcot überblendet der Autor mit dem zeitgenössischen medizinischen Diskurs über den „dunklen Kontinent Weib“, mit der Angst der männlichen Forscher und ihrem Wunsch nach Kontrolle. Der Roman entfaltet ein atmosphärisch dichtes Sitten- und Zeitgemälde des 20. Jahrhunderts. Vor allem aber ist er selbst ein Fragebuch geworden. Ein empathisches, dichtes Erfragen von Möglichkeiten: denen der Liebe, der Wissenschaft, des Erzählens einer zusammenhängenden Geschichte.
Und lässt der Autor sich manchmal auch zum Klischee verleiten, so sind ihm doch zwei sehr eindringliche, sehr lebendige Entwürfe für Blanche Wittmann und Marie Curie gelungen. „Von wie vielen Leben kann man das sagen? Alle haben eine Geschichte, aber nur wenige werden aufgezeichnet.“
Per Olov Enquist: Das Buch von Blanche und Marie, 19,90 Euro. Lesung: Di, 15.3., 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38
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