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Archiv-Artikel

Put a little love in your heart

DAS SCHLAGLOCH von RENÉE ZUCKER

„Wir Türken haben eine völlig irrationale Hemmung vor Nestbeschmutzung“, sagt meine Freundin

„Hier bei uns gibt es ganz eine andere Traurigkeit als dort. Ich weiß nicht, was ich besser finde, das ist schwer zu sagen. Was ich sagen will: Der Reichtum und die Freiheit, die uns unsere Gesellschaft bietet, sind begrenzt. Wir zahlen einen Preis dafür: wir verlieren das, was gewissermaßen die Farbe des Menschseins ausmacht.“ Jean-Claude Rufin

Die letzten Wochen waren anstrengend. Gespräche mit Leyla, unterbrochen von Schreiereien, Be- und Entschuldigungen, endeten irgendwann in erschöpftem Schweigen. Die Nachricht von der Ermordung Hatun Sürücüs und das Buch von Necla Kelek waren fast zeitgleich in unser Blickfeld gerückt und hatten unsere Freundschaft auf eine harte Probe gestellt. Mir war nach der Lektüre von „Die fremde Braut“ ganz krank zumute. Voller Empörung über das, was die interviewten Frauen berichteten, fuhr ich Leyla an, wieso sie mir nie davon erzählt hatte.

„Man kann das nicht einfach aus dem Kontext der Kultur reißen“, sagte meine türkische Freundin, „das Ganze ist viel zu komplex, um es auf die Formel zu reduzieren: Türkische Frauen werden gegen ihren Willen verheiratet und umgebracht, wenn sie nicht parieren. Frauenumbringen ist auch in der Türkei die Ausnahme.“

„Du redest wie eine von jenen Gutmenschen, die in dem Buch gegeißelt werden, weil sie Realitäten ignorieren und aus Verbrechen kulturelle Eigenarten basteln.“

„Und du wie eine, die aus dem Mustopf kommt und erst durch mediale Dauerbeschallung erfährt, dass es auf der Welt nicht immer so zugeht, wie es im Westen als richtig gilt.“

„Kelek sagt, der abwertende Umgang mit Frauen sei in der Religion des Islam verankert.“ Leyla wurde langsam sauer. „Würdest du mir die Zusammenrottung von Pädophilen in Frankreich und dem Saarland oder solche Verbrecher wie Dutroux als Folge der christlichen Kultur beschreiben?“

„Aber das sind Verbrechen“, sage ich.

„Ehrenmorde in der Türkei auch“, sagt Leyla, „Nachbarn aber schweigen – hier wie dort. Wenn ich ein Buch über die Deutschen machen sollte, dann würde ich gerne mal was über die Kälte in den Familien, den Umgang mit den Alten und über das Piercen von Schamlippen und Penissen schreiben.“

„Aber Leute, die sich piercen lassen, tun sich freiwillig etwas an“, wende ich ein. „Wie freiwillig oder wie groß da der Gruppendruck unter Jugendlichen ist, wissen wir nicht“, sagt Leyla. „Wieso sagst du nicht einfach, es ist eine Katastrophe, dass hier in diesem Rechtsstaat junge Frauen um ihr Leben fürchten müssen, nur weil sie aus einer anderen Kultur kommen“, schreie ich. „Weil mir das zu banal ist“, schreit Leyla zurück, „und weil das nicht die Normalität in meinem Land ist. Normal ist, selbst in einfachsten Familien, dass man die Regelverletzer nicht mehr anguckt und nicht mit ihnen spricht. Das kann über Jahre gehen, aber normal ist der Mord an Frauen nicht, akzeptiere das bitte. Und außerdem will ich mir von euch nicht vorschreiben lassen, wann und wie ich meine Kultur zu kritisieren habe.“

Und da verstand ich, dass es vielleicht so wie früher war. Ich durfte sauer auf meine Mutter sein und über sie schimpfen, aber wehe, ein anderer sagte etwas gegen sie.

„Weißt du“, sagt Leyla, „ich habe einmal bei einem Treffen über Problemfälle in Schulen zu deutschen Lehrern gesagt, dass sich manche türkische Eltern nicht um die Bildung ihrer Kinder kümmern – die Konsequenz davon war, dass man die türkischen von den deutschen Kindern ohne jegliches individuelles Nachprüfen in verschiedene Klassen gesetzt hat. Hier interessiert man sich nämlich mehr für geschlagene Frauen als für die Rechte von Kindern. Tolles Integrationsangebot!“

Seitdem verrät Leyla den Deutschen nichts mehr über ihre Leute. „Vor lauter Loyalität und Angst davor, dass was in die falsche Ecke läuft, machst du also das Maul nicht mehr auf“, sage ich.

Sie kontert: „Und du urteilst zu schnell und zu oberflächlich, weil du keine Ahnung von anderen Gesellschaften hast.“

Wir stellen fest, dass wir beide Gefangene unserer Kindheitswerte sind. Sie lernte in ihrer jüdischen Familie in Istanbul die unbedingte Loyalität zur Familie, soziales Engagement für die Gemeinschaft und Bildung als erstrebenswert. Meine Heideneltern im Ruhrgebiet waren überzeugt, dass Ge- und Verbote nichts nützen und ansonsten individuelle Chuzpe nicht schlecht ist, um durchs Leben zu kommen.

Dass es den türkischen Mädcheneltern vornehmlich um die Ehre gehe, wie bei Kelek beschrieben, hält sie lediglich für ein Motiv unter vielen. Es gebe sicherlich genauso häufig Familien, die lange und wählerisch nach einem geeigneten Gatten Ausschau hielten, beziehungsweise viele Mädchen, die mit der Wahl der Eltern einverstanden seien.

Für Leyla ist eine von den Eltern arrangierte Ehe nicht zwingend schlechter als eine so genannte Liebesheirat – zumindest garantiere offenbar keine der beiden Varianten ewiges Glück, sagt sie. Langsam werde ich hilflos.

Nach einer Beruhigungspause sprechen wir über den Film „L’esquive“ aus der Pariser Vorstadt, in dem die Jugendlichen-Clique das Leben des Einzelnen diktiert. Selbst die Liebesbeziehungen. Und alle, ob Muslime oder nicht, schwören ständig beim Koran, so wie man hier „Gott sei Dank“ sagt. Es ist zum Teil ganz furchtbar, plötzlich wieder normal und manchmal sogar lustig. Die Reglements engen ein und geben Sicherheit. Zumindest gegen die Außenwelt. Privates Glück wird eben nicht über das Wohl der Gemeinschaft gestellt. Noch nicht.

Leyla erzählt von einer Frau. Eine junge Frau mit drei kleinen Kindern, die als Mädchen jahrelang von ihrem Vater missbraucht und schließlich von einem Onkel im Nachbardorf aufgenommen und großgezogen wurde.

Würdest du das Treiben Pädophiler im Saarland als Folge christlicher Kultur beschreiben?

Dieser Onkel verheiratete sie später mit einem seiner Söhne in Deutschland. Der ist ein Taugenichts und Krimineller, kümmert sich nicht um seine Familie, und alle zuständigen Ämter und Hilfsorganisationen in Deutschland raten der Frau, sich von diesem Mann zu trennen. Aus Dankbarkeit und Loyalität zu dem Onkel kann sie aber genau das nicht tun.

„Ich verstehe den Konflikt der jungen Frau“, sage ich zu Leyla, „aber du stehst doch nicht unter diesem Loyalitätszwang deinem Land gegenüber wie sie dem Onkel.“

„Wir Türken haben eine völlig irrationale Hemmung vor Nestbeschmutzung“, sagt meine Freundin.

„Das zumindest haben wir in Deutschland nach 1945 ganz gut hingekriegt“, antworte ich, „Selbstkritik gehört hier quasi schon zur Leitkultur.“

„Na ja“, sagt Leyla, „ihr kritisiert, was weltweit bekannt und somit nicht zu verstecken ist. Manches hier kommt mir auch eher selbstgerecht als selbstkritisch vor, aber das gehört eben zu eurem Kulturgut, schätze ich.“

Wir wissen, beim Koran, dass dieses Gespräch noch lange nicht zu Ende ist. To be continued …