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Archiv-Artikel

Früher war interessant

Tagelang Marc Almond hören hilft über den Winter. Trotzdem muss man die Sehnsucht nach gestern irgendwann kalt wegduschen, um wieder in die Gegenwart zu kommen

Die Tage gehen so – manchmal geht man in den Zoo, manchmal denkt man an Rudi Dutschke und daran, dass wahrscheinlich viele aus der ehemaligen Szene des Außenministers den verstorbenen scharfzüngigen Agitator so gut finden, weil sein Vorname an andere Sympathieträger der letzten Jahrzehnte erinnert wie zum Beispiel Rudi Carrell oder Rudi Rüssel.

Zwischen Winter und Frühling ist alles ziemlich früher. Im Fernsehen läuft auf allen Kanälen 1945 und irgendwie kommt man dann selbst ins Gestern. Das hat sich schon angedeutet, als H. vor Wochen erzählte, dass Marc Almond einen furchtbaren Motorradunfall hatte. Zehn Tage lang lag der ehemalige Soft-Cell-Sänger im Koma.

Zwei Monate später erzählte S. von einem begeisterten Text im Guardian über Almonds grad erschienenes autobiografisches Buch – „In Search of the Pleasure Palace“. Weil Marc Almond, right or wrong, immer mein Lieblingsstar gewesen war, kaufte ich mir dann bei amazon seine schöne Autobiografie „Tainted Life“. Die ersten hundert Seiten erzählt er von seiner Kindheit am Meer, dem Alkoholismus seines Vaters und dem elterlichen Anti-Sex-Terror. Weiter bin ich noch nicht, weil ich mir dann ein paar Tage lang das Werk noch mal durchhörte. Das ist gefährlich; man wird so reingesogen, singt die Texte mit nassen Augen mit, diese schöne Onanistenhymne „Mother Fist“, „Torch“ natürlich, „Say hello, wave goodbye“; die ganzen Hits eben und die obszönen Lieder.

Wie toll muss es Anfang der 80er gewesen sein; wie glücklich und schön sehen Marc Almond und Dave Ball in diesem großartigen Ecstasy-Video von „Memorabilia“ aus. Früher ist interessant – daran erinnert zu werden, dass man einer Generation angehört, in der man auch als Heterosexueller nur schwule Sänger gelten ließ, während die Frauen den Nick Cave der „Murder Tales“ verehrten. Früher macht aber auch süchtig und nach ein paar Tagen im Früher ist man leer und müsste eigentlich kalt duschen, um das Früher, das die Gegenwart entwertet, wieder aus dem Kopf rauszukriegen. Kalt duschen kann man aber auch noch im nächsten Leben. Im Internet, also der Gegenwart, gab’s dann ein gestreamtes Interview, das Marc Almond im BBC-Frühstücksfernsehen vor ein paar Wochen gegeben hatte. Er war so angenehm britisch klar, sah prima aus, stotterte manchmal andeutungsweise, erzählte vom Koma und sagte, er sei erst aufgewacht, nachdem ihm jemand die Kinderlieder vorgespielt hatte, die er mal mit seinem Papagei zu Hause gesungen und aufgenommen hatte.

Später gab’s dann einen Gernsehabend mit Brigitte Mira. In einer Szene redete die Verstorbene Hamburgisch. Also so: „ssstolpert übern ssssspitzen Ssssstein“. Und ich dachte an die erblindete Nachtigall von Ramersdorf, die ich ein paar Tage zuvor besucht hatte. Am Ende unseres Nachmittags hatte er ziemlich brillant genau diese Szene nachgespielt. So hatte mich Brigitte Mira im Fernsehen nicht an sich selbst, sondern an die Nachtigall als Brigitte Mira erinnert.

DETLEF KUHLBRODT