: Frei und Spaß dabei
Warum arbeiten, wenn man auch gut leben kann? In einer großen Studie will uns Wolfgang Engler vom Arbeitsglauben heilen. Zeit dafür wär’s ja
VON ROBERT MISIK
Der historische Materialist, dessen zeitgenössischer Nachfahre der Soziologe ist, hat bekanntlich eine Abwehr gegen Flausen im Kopf. Für ihn wird die Welt nicht durch Gedanken bewegt, sondern durch die Entwicklung der materiellen Produktion. Aber doch spielt Bewusstsein für ihn eine Rolle. Bisweilen halten die Vorstellungskraft, die soziale und politische Fantasie nicht Schritt mit der Veränderung der Ökonomie, der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse – der Ordnung der materiellen Existenz. Hätten Gehirne Beine, man könnte sagen: Sie hinken bisweilen ihrer Zeit hinterher.
Dann ist es Sache des Soziologen in seiner Rolle als Gesellschaftskritiker, den Köpfen auf die Sprünge zu helfen. „Der Umsturz der vom Staat sanktionierten Wirtschaftsgesellschaft beginnt im Kopf, mit der Wiederentdeckung der eigenen Urteilskraft“, formuliert Wolfgang Engler ganz am Ende seiner monumentalen Studie „Bürger, ohne Arbeit“, die, der Untertitel sagt es schon, ein Plädoyer „für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft“ sein will. Bürgerrechte, Selbstwertgefühl, soziale Anerkennung, kurzum: meine Identität, hängen an lohnförmig verrichteter Arbeit. Je reicher, produktiver unsere Gesellschaften, umso mehr Menschen wird der Zugang zur respektierten Mitte des Gemeinwesens verwehrt. Dies, wohlgemerkt, ist kein Resultat des Mangels, sondern Resultat des Reichtums unter Bedingungen des Globalismus. Was läge näher, als das „gute Leben“ von Arbeit zu entkoppeln? Um diese Petitesse geht es Engler.
Engler, 53, Kultursoziologe an Ernst-Busch-Regie-Institut in Ostberlin, hatte die DDR als freier Geist überlebt und war nach der Vereinigung bald das, was man so einen Geheimtipp nennt. Schnell machte er sich mit seinen beiden Studien über den Staatssozialismus – „Die zivilisatorische Lücke“ (1992) und „Die ungewollte Moderne“ (1995) – einen Namen, danach legte er die viel gepriesene Mentalitätsgeschichte „Die Ostdeutschen“ vor. Heute gehört der luzide, originelle Denker, wie vergangenen Sommer die Zeit erstaunt feststellte, zu der seltsamen Spezies ostdeutscher Intellektueller, die gar nicht deprimiert durchs Leben gehen und doch „die Krise des Kapitalismus und die Spaltung der Gesellschaft“ analysieren. „Wir leben in einer Zeit des Übergangs, der kulturellen Doppelherrschaft, in einer kritischen Epoche“, schreibt er nun. Die „Maßgaben der Lohnarbeitsgesellschaft“ passen vorne und hinten nicht mehr und behaupten doch ihre Vorherrschaft.
Auf den ersten 100 Seiten, dem stärksten Abschnitt des Buches, analysiert Engler Arbeit als historisches und somit vergängliches Konzept. Bei den Griechen war Bürger, wer nicht arbeitete. Es war ein weiter Weg, bis heute, wo Bürger, mit den vollständig ihm zukommenden Gratifikationen, nur der ist, der arbeitet. Und in der historischen Perspektive ist unbestreitbar: Auskömmliche Lohnarbeit für (fast) alle gab es nur einen kleinen historischen Moment lang. In der Antike gehörten die, die arbeiteten, „nicht dazu“; heute gehören die, die nicht arbeiten, „nicht dazu“. Arbeit ist oft scheußlich, keine Arbeit zu haben, ist noch scheußlicher. Damit haben sich im 19. Jahrhundert Kohorten von Denkern herumgeschlagen, nicht nur Marx. Mit unterschiedlicher Perspektive: Befreiung durch Arbeit, Befreiung in der Arbeit, Befreiung von der Arbeit. Arbeit ist Mühe, und sie von diesem Makel zu befreien, ist vielfach, letztlich ohne Erfolg, versucht worden. Es brauchte die puritanische Werktagsromantik, um den paradoxen Sprung zu vollziehen, in der Mühe die eigentliche Freude zu erkennen, wie es im Max-Weber-Wort von der „innerweltlichen Askese“ anklingt. Befreiung von der Arbeit versandet denn auch nicht selten in seichtem Zeitvertreib und schafft gerade nicht die Aushöhlung des modernen Arbeitsglaubens. Die Konsequenzen der Nichtarbeit menschlich erträglich zu machen, daran sind die modernen Gesellschaften bis heute gescheitert. Und das ist nicht nur eine Geldfrage. „Snobismus“, „purer Hohn“, faucht Engler, sei die Vorstellung neunmalkluger (Neo-)Liberaler, der Arbeitslose vermisse nicht die Arbeit, sondern nur deren Entlohnung; ein Dünkel, den die Aktivistentruppe von den „Glücklichen Arbeitslosen“ – gebt uns nicht Arbeit, gebt uns Geld! – nur provaktiv in sein paradoxes Gegenteil verkehren, was erfrischend ist, aber am Problem nichts ändert. Erwerbsarbeit bettet die Menschen ein, knüpft ein soziales Netz, ist der „Inbegriff des In-der-Welt-Seins“. Der Post-Fordismus befreite, da ist Engler durchaus Realist, viele in der Arbeit, befreite vom Trott, aber auch diese „Befreiung“ ist kapitalistisch eingefärbt, und nicht wenige „befreite“ er von auskömmlicher Arbeit und bugsierte er aus den gesellschaftlichen Kreisen hinaus. Die einen dürfen nicht mittun, die anderen haben nie richtig frei.
Die Antwort für Engler: das Bürgergeld. Die Entkoppelung von Identität und Erwerbsarbeit. Nach der Emanzipation des Arbeiters zum Bürger nun der zweite Schritt: die Empanzipation des Bürgers von der Arbeit und der Tätigkeit vom Erwerb. Dafür ist das Buch ein Plädoyer. „Bürgergeld als Menschenrecht“. Es erkennt den Menschen fraglos an, unabhängig von seiner Stelle, demütigt ihn nicht zum Bittsteller, wenn es für ihn nicht läuft. Und ist auch noch ökonomisch vernünftig im Sinne des Gesamtsystems, sichert es doch die Nachfrage, um die der einzelne Kapitalist sich nicht zu kümmern hat, der Kapitalismus aber schon.
Engler macht es seinen Lesern nicht leicht. Er serviert schwere Kost, lange ökonomische Abhandlungen folgen philosophischen Überlegungen und diese wieder polemisch-pamphletistischen Traktaten – etwa gegen die „Hasspredigten der Gleichheitsfeinde“. Dies alles in einer Sprache, die das Genre Sachbuch von Beginn an sprengt. „Das ist ja Literatur!“, wird der eine oder andere sagen – der eine mit Hochachtung, der andere eher naserümpfend. Gewiss ist Englers Studie keine dieser zeitgemäßen kühlen, analytischen Abhandlungen, sondern eine Streitschrift zur gesellschaftlichen Verbesserung, fast im Stil des vorvergangenen Jahrhunderts. Aber was die Lektüre erschwert, macht auch ihren Gewinn aus: Flach ist das Ganze nirgends! Den Ball am Boden halten, ist Englers Sache nicht. Er fragt nicht, wie kommen wir im politischen Prozess zum Bürgergeld. Das ist so einfach wie spazierengehen: Man bräuchte es nur einführen. Wenn’s denn nur klick machte in den Köpfen. An die will Engler ran. Schließlich weiß der historische Materialist: Es kommt drauf an, die Interpretation von Wirklichkeit zu verändern.
Wolfgang Engler: „Bürger, ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft“. Aufbau-Verlag, Berlin 2005, 416 Seiten, 19,90 €