piwik no script img

Archiv-Artikel

leiden an einer aufwachhemmung von EUGEN EGNER

Das bekam ich für meine Praxisgebühr: Der Arzt wollte mir einreden, ich träume und sei überhaupt kein richtiger Akteur in der Welt des Wachbewusstseins. „Und Sie?“, wagte ich zu fragen. Solche spitzfindigen Fragen seien typisch für Träumende, versetzte der Arzt. Er bestand darauf, dass ich an einer Aufwachhemmung litt. Das sei nicht gut, ich müsse endlich aufwachen, um den Anforderungen des Alltags zu genügen. Also verordnete er mir eine Schocktherapie. Ich fragte mich, ob ich wohl in eine altes Kanalisationsrohr gesteckt würde und ganz woanders, vielleicht auf einer Abraumhalde außerhalb der Stadt, wieder herauskäme. Stattdessen wurde ich in einen speziellen Aufwachraum geschickt, wo ich auf den Schock warten sollte. Ich war sehr gespannt, doch zunächst geschah nichts, und ich machte mir so meine Gedanken übers Gesundheitswesen.

Plötzlich flog in der Zimmerdecke eine Luke auf und ein nackter, kahler und bestimmt total unmusikalischer Kerl mit leichenhaft bläulicher, stellenweise aussatzbedeckter Haut sprang zu mir herunter. Für einen kurzen Moment verharrte das Scheusal in hockender Haltung am Boden, dann richtete es sich erstaunlich geschmeidig auf. Geifernd und eine größere Glasscherbe schwingend kam es näher. Der Ausdruck seiner Visage war so debil wie bösartig. Schon konnte ich mein Spiegelbild in seinen Pupillen erkennen. Das konnte, das durfte nur ein Traum sein. Da hatte der Arzt wohl Recht, ich musste dringend aufwachen.

Auf dem Gipfel meines Entsetzens, als mein Herz zu versagen drohte, tat ich automatisch, was ich von Angstträumen her zu tun gewohnt war: Ich schrie meinem in einer anderen Dimension schlafenden realen Ich zu, es solle sofort die Augen öffnen und erwachen. Insgeheim glaubte ich nicht an den Erfolg der Maßnahme, war ich doch überzeugt, bereits wach zu sein. Zum Glück durchschaute der blauhäutige Angreifer diese Feinheiten nicht, denn er war mit einem Mal weg.

Eine umgehend durchgeführte Untersuchung, deren Kosten von der Krankenkasse nicht übernommen würden, ergab, dass die Schocktherapie insgesamt aber nicht den gewünschten Erfolg bei mir gehabt hatte. „Was ist jetzt wieder?“, erkundigte ich mich bei dem Arzt. „Na, Sie sind tot“, sagte er. „Tot? Ich? Unsinn!“, protestierte ich, denn das würde richtig teuer werden. „Im Grunde ist das ganz natürlich“, belehrte mich der Arzt, „denn jeder Schlaf ist der Versuch des Organismus, sich dem Existieren durch Tod zu entziehen. Das lehrt die Wissenschaft.“ Dann fragte er: „Träumen Sie noch? Können Sie sich an Träume erinnern?“ – „Im Moment nicht.“ – „Dann sind Sie tot.“

Er zog sich die Jacke an und forderte mich auf mitzukommen. „Ich bringe Sie zu Ihrem toten Großvater. Der soll sich um Sie kümmern.“ Das waren ja schöne Aussichten. Vielleicht, dachte ich, wäre es aber gar nicht so schlecht, weil ich dann ja sicher in eine Art Vergangenheit mit einem besseren Gesundheitssystem käme. Und womöglich träfe ich dort meine früh verstorbenen Exbandkollegen wieder und wir könnten, auf der Basis von Opas Rente und Scharlachberg-Vorräten, die erste deutsche Rockoper produzieren! Leider wachte ich schon im nächsten Moment auf.