: Die Mutter der Uiguren
FREIHEITSKÄMPFERIN Rebiya Kadeer war die reichste Frau Chinas, dann wurde sie fünf Jahre inhaftiert und politisch verfolgt. Die im Exil lebende Präsidentin des „Weltkongresses der Uiguren“ ist eine streitbare Figur. Sie sagt: „Unser Schicksal ähnelt dem der Tibeter“
VON SVEN HANSEN
Für die Regierung in Peking ist sofort klar gewesen, dass Rebiya Kadeer hinter den gewalttätigen Unruhen in Ürümqi steckt, der Hauptstadt von Chinas Nordwestprovinz Xinjiang. Denn in der Logik der chinesischen Propaganda kann so viel Gewalt nur von außen kommen. Das war schon im März 2008 bei den Unruhen in Tibet so, als Peking den Dalai Lama umgehend zum Alleinverantwortlichen erklärte. Laut der offiziellen Nachrichtenagentur Xinhua habe die Polizei in den vergangenen Tagen Telefongespräche Kadeers aufgezeichnet, die belegten, dass sie „Drahtzieherin“ der Unruhen in Ürümqi sei. Ein Kommentar eines KP-Blatts vergleicht sie mit dem Dalai Lama und nennt sie eine „eiserne Separatistin, die gemeinsame Sache mit Terroristen und islamischen Extremisten macht.“
Von so viel Bekanntheit und Einfluss kann Kadeer nur träumen. Die Präsidentin des in München ansässigen „Weltkongresses der Uiguren“ war den meisten bisher so unbekannt wie ihr muslimisches Turkvolk im Nordwesten Chinas vor dem Versuch, das US-Gefangenenlager in Guantánamo zu schließen und dort einsitzende Uiguren nicht an Peking auszuliefern.
„Unser Schicksal ähnelt dem der Tibeter. Wir werden von China auch wie diese behandelt und gefoltert,“ sagt Kadeer. Sie erhebt nun schwere Vorwürfe gegen die chinesische Führung: „Die jüngste Unterdrückung der Uiguren hat einen rassistischen Zug angenommen.“ Die chinesische Regierung sei bekannt dafür, dass sie nationalistisches Denken unter den Han-Chinesen ermutige, „um die bankrotte kommunistische Ideologie zu ersetzen“. Dieser fehlgeleitete Nationalismus habe zu Angriffen von Chinesen auf uigurische Arbeiter geführt.
Öffentlich tritt die 62-Jährige, die sich selbst „Mutter der Uiguren“ nennt, meist mit einer Doppa auf. Die traditionelle viereckige bestickte Kappe trägt sie über ihren geflochtenen langen Zöpfen. Sie saß selbst fünfeinhalb Jahre im Gefängnis. Auch sie wirft Peking „kulturellen Völkermord“ an ihrer Volksgruppe vor, wie dies der Dalai Lama im Hinblick auf die Tibeter macht.
Kadeer beziffert die Uiguren mit 20 Millionen, China spricht dagegen von 7 Millionen. Kadeer nennt ihre Heimat, die viermal so groß wie Deutschland ist, Ostturkestan. Peking nennt das 1949 annektierte Gebiet mit vormals wechselhaftem Status dagegen Xinjiang („Neue Grenze“). Als Tor zu Zentralasien hat es für China großen strategischen Wert.
Die mit mehreren Menschenrechtspreisen ausgezeichnete und bereits viermal für den Friedensnobelpreis nominierte Kadeer stammt von armen Eltern ab. Mit 15 wird sie an einen wohlhabenden Uiguren verheiratet. Als sie sich mit 27 scheiden lässt, ist sie bereits sechsfache Mutter. Sie eröffnet einen Waschsalon und beginnt Geschäfte zu machen. 1978 heiratet sie den uigurischen Gelehrten und Regierungskritiker Sidik Rouzi. Mit ihm hat sie drei weitere leibliche sowie zwei adoptierte Kinder.
Gewinne ein Uigure in der Bevölkerung an Einfluss, gebe ihm die Regierung ein Amt, um Macht über ihn zu gewinnen und auf ihre Seite zu ziehen, heißt es in ihrer auf Deutsch von Alexandra Cavelius aufgeschriebenen und 2007 veröffentlichten Autobiografie über ihre Erfahrungen. So wurde Kadeer 1992 Delegierte des Nationalen Volkskongresses in Peking, des Scheinparlaments. 1995 gehört sie Chinas Delegation der Weltfrauenkonferenz in Peking an.
Als Geschäftsfrau feierte Kadeer Erfolge. Skrupellos nutzte sie die Umbrüche in China und Zentralasien aus. In Ürümqi eröffnet sie einen Markt und 1992 das erste Kaufhaus überhaupt. Sie wird Chinas reichste Frau. In ihrer Biografie räumt sie offen die Beteiligung an der gängigen Korruption ein. Den angehäuften Reichtum rechtfertigt sie damit, dass sie nur so etwas für ihr Volk habe tun können. So initiiert sie die „Tausend-Mütter-Bewegung“, die Uigurinnen zu selbstbewussten Geschäftsfrauen ausbildet.
Doch als Kadeer 1997 vor dem Volkskongress die Zustände in ihrer Heimat kritisiert, fällt sie in Ungnade. Bald verliert sie alle Ämter und ihren Reichtum. Im August 1999 wird sie verhaftet. Sie wollte ihrem inzwischen im US-Exil lebenden Mann Material über Menschenrechtsverletzungen zuschicken. Wegen „Verrats von Staatsgeheimnissen“ wird sie zu acht Jahren Gefängnis verurteilt.
„In den ersten Monaten im Gefängnis vermisste ich mit jeder Faser meines Körpers meine Familie und meine Freunde. Nach Monaten der Einzelhaft sehnte ich mir nur noch nach der Nähe irgendeines anderen Menschen, und ich hoffte sogar: ‚Vielleicht kommt jemand, um mich zu verhören‘ “, schreibt sie. Aufgrund internationalen Drucks kommt sie im März 2005 frei.
Kadeer darf schließlich in die USA zu ihrem Mann ausreisen. Seit November 2006 führt sie, was für eine Frau in der männerdominierten uigurischen Gesellschaft ungewöhnlich ist, die Exilvereinigung der Uiguren. „Sie hat die Position wegen ihres hohen Ansehens,“ sagt Ulrich Delius von der Gesellschaft für bedrohte Völker. „Sie ist ein Aushängeschild, das versteht zu gewinnen.“ Er hat Kadeer mehrfach bei Besuchen in Deutschland betreut. Aus Rache für ihre Exilaktivitäten hat Peking zwei ihrer in China verbliebenen Söhne zu neun und sieben Jahre Haft verurteilen lassen. Laut Delius müsse sie deshalb immer wieder abwägen, wie weit sie in ihrer Kritik an Chinas Regierung gehen kann. Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York und Washington diffamiert Peking Uiguren, die sich für ihre Rechte einsetzen, pauschal als Terroristen. Dabei helfen vereinzelte Verbindungen von Uiguren zu Islamisten in Zentralasien, Afghanistan und Pakistan.
Kämpft Kadeer für ein unabhängiges Ostturkestan? Sie wolle die Selbstbestimmung ihres Volkes, sagt sie ausweichend. „Der Dalai Lama hat gesagt, er ist mit Autonomie einverstanden. Trotzdem werden die Tibeter weiter unterdrückt, und der Dalai Lama wird weiter von Peking als Feind betrachtet. Deshalb kämpfe ich nicht für Autonomie oder Unabhängigkeit, sondern für die Menschenrechte der Uiguren.“