: Medikamente für den Zappelphilipp
Bei unbequemen Kindern wird viel zu schnell zu Arzneimitteln gegriffen. Nicht jedes Kind, das sich nicht konzentrieren kann, darf gleich als krank eingestuft werden. Auch ist bei medikamentöser Behandlung mit schweren Nebenwirkungen zu rechnen
VON CLAUDIA BORCHARD-TUCH
Ist die Einnahme von Strattera mit seinem Wirkstoff Atomoxetin mit Risiken verbunden? Die Arznei zur Bekämpfung der Zappelphilipp-Symptomatik, die seit dem 1. März in deutschen Apotheken erhältlich ist, wirkt nach Angaben des Herstellers Eli Lily sicher und beständig den ganzen Tag lang. Doch vor kurzem wurden Ärzte von der britischen Arzneimittelaufsichtsbehörde alarmiert: Atomoxetin kann vereinzelt zu Leberschäden führen.
Diese Meldung kam überraschend. Denn seit seiner Erstzulassung vor zwei Jahren in den USA ist Atomoxetin weltweit an mehr als zwei Millionen Patienten verschrieben worden und hat sich als recht effektive Handhabe gegen die so genannte Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) erwiesen. So scheinen viele Nebenwirkungen bei Atomoxetin geringer ausgeprägt zu sein als bei anderen ADHS-Medikamenten.
Bislang ist Atomoxetin das einzige ADHS-Mittel, das keine stimulierende Wirkung auf die Psyche gezeigt hat. Im Gegensatz zu den anderen Medikamenten unterliegt Atomoxetin damit nicht dem Betäubungsmittelgesetz und kann weitaus einfacher verschrieben werden.
Dies birgt Gefahren, aber auch Nutzen. Denn dass den ADHS-Patienten geholfen werden muss, kann nicht bezweifelt werden. Hyperaktive Kinder springen herum, lärmen, zappeln, scheinen immer in Bewegung zu sein und können sich kaum an Regeln halten. Doch nicht alle an ADHS Erkrankten sind Zappelphilippe, manche wirken eher träge und verträumt. Sie brauchen viel mehr Zeit für Aufgaben als andere Kinder, weil sie ständig mit etwas anderem beschäftigt sind. Alle ADHS-Patienten aber haben eine gemeinsame Schwierigkeit: Sie können sich nicht konzentrieren. Dies fällt spätestens in der Schule auf: Fast 90 Prozent der Eltern eines ADHS-Kindes sorgen sich um dessen schulischen Erfolg.
Sicher ist bisher, dass der Botenstoff Dopamin eine Schlüsselfunktion bei der Entstehung der ADHS einnimmt. Auch eine andere Überträgersubstanz – das Noradrenalin – beeinflusst offenbar das Aufmerksamkeitssystem des Gehirns. Atomoxetin verhindert, dass das aus Dopamin gebildete Noradrenalin von den Nervenzellen wieder aufgenommen und damit unwirksam gemacht wird, und bessert so die ADHS-Symptomatik.
Das in Nordamerika gegen ADHS eingesetzte Medikament Adderall, das die Wirksubstanz Dextroamphetamin enthält, wirkt auf ganz andere Weise: Es stimuliert die Dopamin-Freisetzung bestimmter Nervenzellen und balanciert so das genetisch bedingte Dopamin-Ungleichgewicht wieder aus. Doch Adderall wurde vor kurzem von der kanadischen Arzneimittelbehörde verboten. Anlass sind Berichte über Todesfälle, die nach Einnahme des Medikaments in normalen Dosierungen aufgetreten sind. Die Patienten – meist Kinder – starben an Herzversagen oder Schlaganfall. Keiner von ihnen hatte das Medikament missbräuchlich oder in einer zu hohen Dosierung eingenommen. In den USA bleibt das Medikament vorerst auf dem Markt.
Auch über die Risiken des seit Jahren zur Therapie der ADHS verwendeten Methylphenidats (zum Beispiel Ritalin) wird immer häufiger und intensiver nachgedacht. Für besondere Aufregung sorgten zuletzt Meldungen, dass Methylphenidat die Parkinson-Krankheit verursachen könnte. Diese Berichte werden jedoch von den meisten Wissenschaftlern für reine Spekulationen gehalten.
Aber noch anderes löst Unruhe aus: In Drogenkreisen wird die Substanz als Aufputschmittel angeboten. Zwar soll es in den üblichen Dosierungen zu keiner Abhängigkeit kommen, doch ab etwa 200 Milligramm wirkt Methylphenidat nach Angaben des Pharmakonzerns Novartis euphorisierend und kann sowohl seelisch als auch körperlich abhängig machen.
Angesichts dieser Bekanntmachungen stellt sich die Frage, ob ADHS-Medikamente nicht mit mehr Bedacht verschrieben werden sollten als bisher üblich. Geschätzt wird, dass bis zu fünf Prozent aller Kinder unter ADHS leiden und dass dieser Anteil sich nicht verändert hat. Damit ist unklar, warum die Diagnose in den letzten Jahren immer häufiger gestellt worden ist.
Mit Schwierigkeiten verbunden ist, dass kein simpler ADHS-Test existiert, der die charakteristischen Verhaltensauffälligkeiten eindeutig misst. Eventuell wird zu wenig in Betracht gezogen, dass die Zeiten, die ein Kind sitzend in der Schule oder zu Hause verbringt, immer länger werden und dass Kinder, die ihren natürlichen Bewegungsdrang unterdrücken müssen, generell von einer inneren Anspannung erfasst werden.
Doch trotz all dieser Diskrepanzen besteht in einigen Punkten auch Übereinstimmung: Die Medikamente dürfen nur im Rahmen einer vielschichtigen Therapie zum Einsatz kommen. Diese Therapie muss psychotherapeutischen und psychosozialen Behandlungsmaßnahmen einen hohen Stellenwert beimessen. Und außer Frage steht, dass ADHS bisher noch nicht heilbar ist – bessern lässt sich nur die Symptomatik.