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Archiv-Artikel

„Der Aberglaube ist in China weit verbreitet“, sagt Professor He Weifang aus Peking

Kein Land vollstreckt so viele Todesurteile wie China. Jetzt soll das Strafrecht reformiert werden

taz: Herr He Weifang, kein Land lässt mehr Menschen exekutieren als China. Die Rede ist von 10.000 Todesurteilen im Jahr. Nun hat der chinesische Premierminister Wen Jiabao erstmals eine Reform der Todesstrafe in Aussicht gestellt, die verspricht, die Zahl der Exekutionen in China deutlich zu reduzieren. Ist dem Glauben zu schenken?

He Weifang: In Zukunft soll jedes Todesurteil vom Obersten Volksgericht geprüft werden. In welchem Umfang damit die Zahl der Todesurteile reduziert werden kann, ist schwer abzuschätzen. Schon 1982 bekamen die lokalen Gerichtshöfe durch eine Sonderregelung das Recht, die Höchststrafe zu verhängen. Seither fehlt dem Obersten Volksgericht die Praxis. Wie viel neues Personal wird bereitgestellt? Die Überprüfung der Urteile darf ja nicht aus dem Lesen von Akten bestehen. Ein Gerichtsbeauftragter muss vor Ort mit dem Verurteilten persönlich sprechen. China ist groß, das ist keine leichte Arbeit, und keiner weiß, wie genau das Oberste Volksgericht seinen Auftrag wahrnehmen will. Richtig ist sicher, dass die Zahl der Exekutionen sinken wird. Aber noch ist es zu früh, die Reform zu loben.

Wo liegen die Gründe für die Reform?

In der steigenden Kriminalität. Zum Beispiel wurden in der Südwestprovinz Yunnan in den letzten Jahren sehr viele Exekutionen wegen Drogenschmuggels vollstreckt. Dennoch stieg der Drogenhandel in Yunnan weiter an. Das belegt, dass die Todesstrafe ihren angeblichen Zweck, Menschen von Verbrechen abzuschrecken, nicht erfüllt. Dennoch ist dieser Aberglaube in China auch heute noch weit verbreitet. Er erklärt, weshalb die Reform lange verzögert wurde und in der Praxis noch viel zu tun bleibt, um die Zahl der Todesurteile zu reduzieren. Seit langem reden wir darüber, die Todesstrafe für Wirtschaftsverbrechen abzuschaffen. Hier ist der Nationale Volkskongress gefordert, weil man zuerst das Strafrecht ändern muss. Im chinesischen Strafrecht ist der Geltungsbereich für die Todesstrafenanwendung viel zu groß.

Seit 1999 spricht die chinesische Verfassung vom „Aufbau des sozialistischen Rechtsstaates“ und dem „Regieren nach dem Gesetz“. Kommt der Rechtsstaat in China heute tatsächlich voran?

Nach den Verfassungsänderungen von 1999 waren alle begeistert. Doch was für China typisch ist: Erst werden Gesetze verabschiedet, dann findet man einen Weg, ihnen auszuweichen. Hierin liegt das zweitgrößte Problem beim Aufbau des Rechtsstaats in China. Es fehlt am Respekt vor Gesetzen. Das größte Problem ist, dass wir den Begriff des verfassungsgemäßen Regierens nicht kennen. Es gibt überall Machtapparate, die außerhalb der Gesetze stehen, etwa die Kommunistische Partei.

In den letzten Jahren nährte der Volkskongress, dem in China verfassungsgemäß die Aufgaben des Parlaments zufallen, die Hoffnung auf mehr Eigenständigkeit gegenüber Regierung und Partei.

Richtig ist, dass im Volkskongress nicht mehr wie früher Greise sitzen, sondern junge, professionell versierte Mitglieder, die auch Regierungskritik nicht scheuen. Aber der Kongress ist immer noch kein Parlament. Seine Abgeordneten sind nicht demokratisch gewählt. Man kann von ihnen nicht erwarten, die Interessen der Bevölkerung zu vertreten. Echte Fortschritte gibt es bisher nur auf Provinzebene. In Guangdong und Guangzhou haben die Abgeordneten heute mehr Rechte bei der Überwachung der Regierungsarbeit. Anderswo wurde bei einer Gouverneurswahl der Regierungskandidat abgewählt. In diesen Fällen sind die Abgeordneten nicht mehr nur Stimmmaschine der Regierung.

Mit dem Ziel einer „harmonischen Gesellschaft“ will sich die KP heute ideologisch neu profilieren. Widerspricht der Harmoniebegriff dem Rechtsstaatsgedanken, indem er Konflikte vertuscht?

Parteichef Hu Jintao hat den Begriff so erklärt, dass sich eine harmonische Gesellschaft immer im Rahmen der Gesetze bewegt. Aber bedeutet das, dass man die grundlegenden sozialen Konflikte nicht akzeptiert? In China nimmt die Aufspaltung der Gesellschaft stark zu. Es entstehen immer mehr widersprüchliche Interessen verschiedener Bevölkerungsgruppen.

Das gilt auch für die Machtorgane. Jede Behörde schützt ihre Interessen. Das ist ganz normal. Doch in der chinesischen Geschichte und Philosophie wurde immer einseitig die Harmonie betont. Der Respekt für Konflikte, geschweige denn ein System, das ihre offene Austragung und Kontrolle erlaubt, hat immer gefehlt. Bis heute ist offene Kritik an der Regierung oder an Politikern nicht erlaubt. Es gibt nur eine Partei und keine Opposition. Konflikte im politischen Bereich bleiben also unterbunden. Doch ohne richtige Konflikte wird es auch keine richtige Harmonie geben.

Dürfen die westlichen Staaten das kritisieren?

Chinas Fortschritte im Menschenrechts- und Justizbericht sind auch dem ausländischen Einfluss zu verdanken. Wir arbeiten gerade am Entwurf eines Zivilgesetzbuches. Da kann man viel vom Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch lernen. Auch werden die Meinungen westlicher Politiker bei uns sehr ernst genommen. Wenn sie bei Treffen mit chinesischen Regierungsmitgliedern ihre Kritik offen äußern, ist das sinnvoll. Sie dürfen nicht für Wirtschaftsinteressen ihre Prinzipien opfern.

INTERVIEW: GEORG BLUME