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Archiv-Artikel

Der Scharfmacher

Er ist ein Unkraut, wächst auf Feldern und am Wegesrand: Senf ist zwar in aller Munde, aber trotzdem vielen ein Unbekannter. Von mild und süß bis scharf sind seine Nuancen und Aromen vielfältig. Als Delikatesse erlebt Senf gerade eine Renaissance

VON TILL EHRLICH

Der nussbraune Klecks schimmert harmlos im Licht, seine Süße schmeckt höchst angenehm auf der Zunge. Sie füllt den Mund, schmeichelt den Sinnen. Doch plötzlich spüren wir einen Hieb. Schärfe. Lautlos, wie ein Blitz ohne Donner, fährt sie in den Körper. Jagt durch alle Nerven, bis ins Hirn. Doch diese Schärfe brennt nicht, sie belebt, wirkt angenehm und befreiend. Einen Augenblick später ist sie schon verflogen. Blitzschnell.

„Zarensenf“ ist ein magischer Stoff. Er hat wenig zu schaffen mit dem ordinären salzigen Senf, der an Imbissbuden zu fetter Wurst und Buletten auf Pappen gekleckst wird. Zarensenf ist eine Delikatesse. In einer kleinen Manufaktur in Berlin-Kreuzberg wird er hergestellt. „Senfsalon“ haben Merit und Christoph Schambach ihre kleine Senffabrikation genannt in der Hagelberger Straße. Die Fotografin und der Komponist haben vor drei Jahren ihre Senfliebe entdeckt. Seitdem ist die Welt der Feinschmecker um dreißig Senfköstlichkeiten reicher: Ob Bananen-, Birnen- oder Himbeersenf, ob Schottischer Senf oder Sanfter Sesamsenf, hier öffnet sich dem Genießer eine unbekannte Welt. Dass Senf so viele geschmackliche Nuancen und Aromen bilden kann, ist ebenso faszinierend wie köstlich. Trotzdem ist er als reine Delikatesse noch eher unbekannt. Viele kennen ihn nur als Würze und Verdauungshilfe zu fetter Wurst und Fleisch. Das ändert sich gerade. Senf erlebt momentan seine Renaissance.

Im Senfsalon wird alles selbst gemacht, mit Handarbeit. Es gibt weder chemische Zusätze noch Farbstoffe wie bei den meisten Industriesenfen. In der Senfküche vom Senfsalon verarbeiten die Schambachs nur frische und hochwertige Zutaten. Himbeersenf etwa wird mit frischen Himbeeren gemacht. 57 Prozent (!) beträgt der Himbeeranteil im Senf. Jeden Tag wird eine andere Sorte hergestellt, etwa 300 kleine sechseckige Gläser. Eine Miniproduktion.

In der Ecke der Senfküche steht ein senfgelber Plastikbottich. Christoph Schambach öffnet den Deckel. Ein irrer Duft steigt auf: senfige Süße und torfiger Whisky. Senfkörner, braune und schwarze, sind von bernsteinfarbenem Whisky bedeckt. Das nennt sich Maische, am nächsten Tag wird aus ihr Schottischer Senf entstehen. Christoph Schambach drückt den Deckel wieder fest auf den Maischebottich. „Senf hat bei vielen noch ein Bockwurst-Image“, sagt er „Aber es ist eine reizvolle Aufgabe, immer mehr Menschen zu zeigen, wie aromatisch Senf schmecken kann.“ Und dann fügt er an: „Ein wirklich guter Senf ist so edel, der passt sogar zu Butterkeks und Eis.“

Auch in Brandenburg, wo bis zum Kriegsende zahlreiche kleine Senfmühlen und Senfmanufakturen existierten, gibt es in den letzten Jahren wieder Bestrebungen, die alte Tradition aufleben zulassen. Der bekannteste Senfspezialist ist Rainer Zimmermann, der im Oderbruch, in Niederfinow, köstlichen Senf bereitet. Unweit vom Schiffshebewerk befindet sich seine kleine Manufaktur, siebzehn Sorten umfasst das Sortiment. Es reicht von alten brandenburgischen und schlesischen Rezepturen, wie Appel-, Bärlauch-, Preußen- und Sanddornsenf, bis hin zum Biosenf.

Senf ist eine uralte Kulturpflanze, gilt seit dem Altertum als Heilpflanze. In der Schweiz etwa fällt er unter das Arzneimittelgesetz: Senfkörner und Senfmehl kann man dort nur sündteuer in Apotheken kaufen. Die ätherischen Senföle fördern die Verdauung. Zudem sollen sie desinfizierende und Krebs vorbeugende Wirkung haben. Auch Durchblutung und Speichelfluss soll der Senf anregen. Zudem macht er Speisen länger haltbar.

Senf ist ein Unkraut. Es wächst auf Feldern und am Wegesrand. Es gibt über vierzig Senfarten. Für die Bereitung des Senfes werden nur zwei verwendet: der schärfere Braune Senf (auch Schwarzer Senf genannt) sowie der Weiße Senf. Seine Samen sind gelb und mild. Das wertvolle Senföl bildet sich allerdings erst, wenn die Senfsaat aufgebrochen und mit Wasser vermischt wird. Durch ein senfeigenes Enzym entsteht das ätherische Senföl. Es enthält das scharf schmeckende und entzündungshemmende Glykosid Sinalbin. Es ist nicht hitzebeständig und verflüchtigt sich schnell, wenn seine Schärfe nicht mit Säure gebunden wird. Daher wird seit alters Senf mit Essig, Wein oder Most angerührt. Auf Letzteren geht Mostrich zurück.

Der Geschmack des Senfes wird durch die Wahl der Senfsamen beeinflusst. In Amerika, England und Deutschland werden traditionell eher die milden gelben Senfsamen verarbeitet. Aromatischer und schärfer wird’s, wenn der Braune Senf mit ins Spiel kommt. Er ist in Frankreich, Indien oder auch in Osteuropa beliebt. Deswegen hat Christoph Schambach seinem Zarensenf den Namen gegeben, weil sich seine faszinierende Schärfe aus dunkler Senfsaat speist. Die Senfregel lautet: Je dunkler der Senf, desto schärfer schmeckt er. Eine unrühmliche Ausnahme ist der braune Weißwurstsenf, dessen pappige Süße weder geschmackliche Struktur noch Finesse besitzt.

Guter Senf schmeckt nicht vordergründig süß, sauer oder salzig. Schärfe zeichnet ihn aus. Sie gibt den geschmacklichen Kick. Aber wie alle schönen Dinge ist sie vergänglich. Die Schärfe des Senfes verflüchtigt sich schnell. Deshalb ist es wichtig, den Senf immer mit Deckel zu verschließen. Ihn im Kühlschrank aufzubewahren, aber bei Zimmertemperatur zu genießen.