Kleine Schillerkunde (2)
: Die Kerze brennt an beiden Enden

Was tun, wenn man Schiller vergessen hat? In den Schmähreden Arno Schmidts zu lesen hilft weiter

Lächerlicherweise lassen sich meine Begegnungen mit Friedrich Schillers Literatur trotz eines abgeschlossenen Germanistik-, Geschichts- und Theaterwissenschaftsstudiums an einer Hand abzählen. Für Historiker etwa gilt ja Schillers „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung“ (1788) zur Allgemeinbildung – zur Kenntnis genommen habe ich den Text jedoch bis heute nicht.

Irgendwann muss ich zumindest das Drama „Die Räuber“ (1781) gelesen haben. Erinnern kann ich mich jedoch auch hier eher an Szenenfetzen aus der tumultuösen Inszenierung des Stücks, mit der Frank Castorf 1990 an der Volksbühne sein Publikum schockte, als dass ich die genaue Handlung des Sturm-und-Drang-Klassikers noch aus dem Kopf wiedergeben könnte.

Und damit der Peinlichkeiten kein Ende. Gleich zu Beginn meines Studiums hielt ich nämlich ein Referat über Schillers Vorlesung „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“ (1784). Doch das ist auch schon alles, was ich darüber noch weiß: Worum es in diesem Text genau geht, habe ich 13 Jahre später längst verdrängt.

So bleibt mir denn nur eines, um mich aus der Affäre zu ziehen: den modernen Schriftsteller, dessen Werke mir derzeit präsent sind, zu seiner Meinung über Schiller zu befragen – Arno Schmidt.

Schmidt ist ja als einer der manischsten Vielleser der Nachkriegsliteratur ein Autor, dessen Urteile zum eigenen Nachlesen anregen können. Der Berliner Literaturprofessor Horst Denkler schrieb einmal über Schmidts notorische Goethe-Beschimpfungen die Mutmaßung nieder, gerade die von Schmidt bestgehassten Autoren dürften ihm in Wahrheit immer die wichtigsten gewesen sein.

Offenbar gehörte Schiller dazu. So heißt es in „Zettels Traum“ (1970) lapidar: „Scheiß=Schiller!“ Und Alice Schmidt, die laut Zeitzeugen gern nachplapperte, was ihr Mann sagte, schreibt bereits am 10. Juli 1954 in ihr Tagebuch, sie beginne „nun mit: Schillers Jungfrau v. Orleans. – Aber wie platt schon die I. Verse. Welch Vater sagt zu seiner Tochter: ‚Entfaltet ist die Blume deines Leibes‘. Arno ist gleicher Ansicht! – Was für ein Gott ist Arno dagegen!!“

Ist das Größenwahn? Eines ist wohl klar: Schiller wird von Schmidt als gefährlicher Konkurrent wahrgenommen, den es mit polemischem Furor aus dem Weg zu räumen gilt. Dazu ist ihm erst einmal jede Behauptung recht. So schimpft er an einer Stelle, „in Beziehung auf Gelehrsamkeit war Friedrich Schiller ein erbärmlich kleines Licht verglichen mit dem Begründer des Sanskritstudiums oder dem Shakespeare=Übersetzer“. Gemeint ist Friedrich Schlegel.

Der Klassiker sei zwar ein „großer Mann, gern zugegeben; aber was sind seine Stücke, unvoreingenommen betrachtet, mehr, als dialogisierte causes célèbres, d. h. berühmte Kriminalfälle?“ Mit dem Krimigenre konnte sich Schmidt bekanntlich nie anfreunden, weswegen er brutale Schiller-Plots wie in „Die Räuber“ oder „Jungfrau von Orleans“ abkanzelt: „Daß Schiller heute, bei uns, der gesuchteste Drehbuchautor für Mord= und Räubergeschichten wäre, kann doch nur ein Denkfauler oder ein Germanist abstreiten.“ Andererseits wendet der Kritiker diesen Aspekt an anderer Stelle positiv: „Schiller war wesentlich morbider und radikaler, als der von seinen nationalen Schlagworten hingerissene Bürger sich normalerweise einzugestehen wagt! Hätte es zu seiner Zeit schon den Kriminalroman gegeben (zu dem er nebenbei im »Geisterseher« einen unverächtlichen Anfang gemacht hat), er hätte darin excelliert! -“

Ein Grund mehr für den heutigen Leser, sich diesen „Geisterseher“ (1788) vielleicht irgendwann einfach einmal selbst vorzunehmen, um zu überprüfen, was es mit diesem angeblichen „Prä-Krimi“ denn nun auf sich habe. Womit sich der typische Romanführereffekt der Schmidt-Lektüre auch schon wieder eingestellt hätte!

„Lest Schiller!“, scheint es uns auch aus den von Schmidt mit unverkennbarer identifikatorischer Faszination vorgetragenen biografischen Anekdoten entgegenzurufen: „Als Goethe eines Tages in das Arbeitszimmer seines »Freundes« Schiller trat [.], da befiel ihn am Schreibtisch ein ausgesprochenes Schnüffeln. Er sah Frau Charlotte an; und diese zog achselzuckend das Schubfach auf, aus dem ein wahres Konzert süßlichst=fauliger Gestänke quoll: es war gefüllt mit modernden Äpfeln, in allen Stadien und Farben nur denkbarer Verwesung von Pflanzenleibern: »Er sagt, es rege ihn beim Schreiben an!«“

Nicht nur, dass Schmidt hier abermals versucht, öffentliche Zerrbilder hehren (und ehemals: nationalsozialistisch vereinnahmten) Klassikertums zu untergraben, indem er den Säulenheiligen Schiller wieder zu einem Menschen macht, der skurrile Ticks und Spleens hatte (und dabei Goethes viel beschworene Freundschaft zu Schiller in Anführungsstriche setzt); man erkennt auch, dass Schmidt seine eigenen alkoholischen Stimulansexzesse bei der Arbeit – er trank nachts Unmengen von Schnaps und Kaffee, während er schrieb – gern mit der Schnüffelsucht seines großen Vorgängers rechtfertigt: „SCHILLER - : hat sich doch=ooch an fauln Eppln uffgegaylt“!

Nicht zuletzt würdigt er in Schiller einen Mann, der sein Leben ohne Kompromisse der Literatur „geopfert“ habe: „Er starb mit 46 Jahren, sinnlos verbraucht, wie eine an beiden Enden angezündete Kerze!“

Eine Beschreibung, die natürlich vor allem auf Schmidt selbst passt, der 1979 an der Schreibmaschine einen tödlichen Schlaganfall erlitt. Das sollte uns jedoch nicht davon abhalten, nachzulesen, welche literarischen Früchte aus der Fron resultierten. Den düsteren Klagen ihrer Autoren zum Trotz kann das nämlich richtig Spaß machen. Auch bei Schiller. JAN SÜSELBECK