„Importbräute sind rechtlos“

INTERVIEW SABINE AM ORDE

taz: Ihr Vater ist vor zwei Jahren gestorben. Hatten Sie vorher noch einmal Kontakt zu ihm?

Necla Kelek: Nein. Seit unserem letzten Streit vor fast 30 Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen.

In Ihrem Buch wird deutlich, dass Sie mit ihm brechen mussten, um selbstbestimmt leben zu können.

Das stimmt, dabei war es zu Beginn ganz anders. Als wir 1967 nach Deutschland kamen, war mein Vater sehr offen. Das erste Jahr hatten wir nur mit Deutschen Kontakt, ich hatte viele deutsche Freundinnen. Problematisch wurde es, als ich in die Pubertät kam. Da wurde ihm klar: Unter Freiheit versteht diese Gesellschaft auch die Freiheit der Sexualität.

Was hat er gemacht?

Als ich 12 oder 13 war, durfte ich nicht mehr am Sportunterricht teilnehmen. Das war das Erste. Eines Morgens wollte ich mit meinem Turnbeutel zur Schule, da hat mein Vater gesagt: „Das lassen wir jetzt.“

Wie haben Sie reagiert?

Ich war empört. Und ich habe gehofft, dass meine Lehrerin meinen Vater umstimmen wird. Aber sie hat nur gesagt: „Dann wollen wir deinen Vater nicht verärgern, du kannst ja so lange lesen.“ Bald durfte ich keinen Kontakt mehr zu Deutschen haben und musste nach der Schule sofort nach Hause. Ich wurde schlecht in der Schule und wollte nicht mehr hin.

Ihre Familie ist säkular geprägt, Ihre Eltern fühlten sich der türkischen Republik verpflichtet. Warum haben sie Sie trotzdem so eingeschränkt?

Das lag an der Migration. Wenn wir in Istanbul gelebt hätten, wäre das nicht passiert. Hier in Deutschland sind die Träume meiner Eltern schnell geplatzt: Sie waren keine Gewinner. Und sie haben sich nach ihrer Heimat gesehnt. Dann kamen sehr traditionelle Familien in unsere niedersächsische Kleinstadt. Man fand sich zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen. Das hat meine Eltern beeinflusst.

Ihre Freundinnen sind alle in die Türkei verheiratet worden. Warum haben sich diese jungen Frauen nicht gewehrt?

In meiner Familie gab es eine bürgerliche Grundlage. Es gab viele Bücher, besonders die Romane der Weltliteratur waren sehr wichtig für mich. Als ich mit 13 nicht mehr zur Schule gegangen bin, hat mich Scarlett O’Hara aus „Vom Winde verweht“ gerettet. Sie hat mir Kraft gegeben und ich habe über individuelle Lebensentwürfe nachgedacht. In den meisten türkischen Familien gibt es so gut wie keine Bücher. Die Mädchen lernen kein eigenständiges Denken. Die Älteren sagen, wo es langgeht.

Hatun Sürücü, eine junge türkischstämmige Berlinerin, hat sich gegen eine solche Familie zur Wehr gesetzt. Am 7. Februar ist sie erschossen worden. Die Polizei geht von einem Ehrenmord aus, Täter sollen ihre drei Brüder sein. Haben Sie sich schon einmal bedroht gefühlt?

Nein, meine Familie gehört nicht zu einer Stammesgemeinschaft, in der die soziale Kontrolle so stark ist. Hatun Sürücü stammt aus einer kurdischen Familie, in der die Sitten und Bräuche noch sehr traditionell gelebt werden. Ein Ehrenmord wäre bei uns unvorstellbar. Das heißt nicht, dass Ehre nicht wichtig ist. Mein Vater hat deshalb mit mir gebrochen.

In Berlin haben drei Schüler den Mord verteidigt, weil die Frau „wie eine Deutsche“ gelebt habe. Sie haben türkischstämmige Jugendliche befragt. Wie ernst muss man solche Äußerungen nehmen? Und wie viel davon ist pubertierendes Jungengeschwätz?

Als ich 1995 die erste Untersuchung zu diesem Thema gemacht habe, haben viele Jugendliche – auch Mädchen – solche Äußerungen gemacht. Man muss sie sehr ernst nehmen, denn das sind Normen und Werte, die die Jugendlichen von ihren Eltern haben. Diese wollen ihre Kinder vor der deutschen Gesellschaft schützen, weil sie den Lebensstil der Deutschen zutiefst ablehnen. Deshalb holen sie für die Jungen auch „Importbräute“ aus ihrer Region in der Türkei ins Land.

Was meinen Sie damit?

Diese Eltern wollen ihre Kinder ganz schnell verheiraten, um sie nicht an die deutsche Gesellschaft zu verlieren. Für die Söhne suchen sie eine Frau, die in der Türkei in einer traditionellen Familie aufgewachsen ist.

Sie haben mit vielen Importbräuten gesprochen. Wie sieht ihre Lebenssituation aus?

Die Mädchen sind meist zwischen 14 und 18 Jahre alt und rechtlos. Hier angekommen, leben sie ausschließlich in der Familie des Mannes, die sie nicht kennen. Die meisten dürfen kein Deutsch lernen, haben keinen Kontakt zu Deutschen. Sie gehorchen der Schwiegermutter, bedienen die Großfamilie und erziehen ihre Kinder traditionell.

Sie behaupten, die Hälfte aller Hochzeiten in der türkischen Community sind arrangierte Ehen, bei denen die Eltern die Ehepartner für ihre Kinder aussuchen, oder gar Zwangsheiraten. Woher nehmen Sie diese Zahl?

Pro Jahr kommen 15.000 bis 20.000 türkische Migranten über die Familienzusammenführung nach Deutschland. Meist haben sie einen Partner geheiratet, der in Deutschland lebt. In meinen Befragungen hat keine der Bräute sich ihren Mann selbst ausgesucht. Untersuchungen in der Türkei belegen, dass generell über die Hälfte aller Ehen arrangiert wird. Ich behaupte aufgrund meiner Erfahrung, dass dies auch für die in der Türkei geschlossenen Ehen gilt, bei denen ein Ehepartner aus Deutschland kommt. In dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin, hat jede Familie eine Importbraut! Aber Sie haben Recht, amtlich erhobene Zahlen gibt es bislang nicht.

Sie setzen arrangierte Ehen und Zwangsheiraten gleich. Viele Mädchen sagen: Ja, meine Eltern suchen einen Mann für mich, aber ich kann Nein sagen.

Irgendwann muss jedes Mädchen „Ja“ sagen. Es kann nicht sagen: Ich habe gestern in der Disco Mehmet kennen gelernt, mit dem will ich mich treffen. Es kann auch nicht einfach ausziehen. Es muss heiraten, eine Alternative dazu gibt es nicht.

Die Ursache dafür sehen Sie im Islam. Aber Ihre Familie ist nicht religiös und Ihre Geschwister sind trotzdem verheiratet worden.

Es gibt den türkisch-muslimischen Common Sense. Sobald es um die Mädchen geht, ziehen sich die Eltern eben doch auf bestimmte traditionelle Vorstellungen zurück, und die sind religiös geprägt. Das Problem ist: Es gibt unter den Muslimen keinen Konsens darüber, wie der Islam in einer modernen Welt gelebt werden kann. Darüber müssen sich die religiösen Vereine mit den Menschen in den Moscheen auseinander setzen. Und auch darüber, wie die Kinder erzogen werden sollen, damit sie in dieser Gesellschaft ankommen und sich nicht aus Frust ins Islamghetto zurückziehen.

In Ihrem Buch sprechen Sie von „dem“ Islam, mit dem das rechtlose Leben der Importbräute gerechtfertigt wird. Kritiker finden das zu pauschal.

Mit dem Islam wird diese Lebenspraxis gerechtfertigt. Ich beschreibe einen Zustand, erkläre, wie es dazu kommen konnte.

Glauben Sie überhaupt an die Reformfähigkeit des Islam?

Wenn die Gläubigen eine Reform wollen, wenn sie den Islam den Bedürfnissen der Menschen in einer modernen Gesellschaft anpassen wollen, dann müssen sie viele traditionelle Sichtweisen über Bord werfen. Es ist eine Aufgabe, die so groß ist wie die Reformation der christlichen Kirche. Die Muslime müssen in der Demokratie ankommen wollen und anstreben, Religion und Individualität zu versöhnen.

Das beantwortet die Frage noch nicht.

Die Muslime sind eine große Glaubensgemeinschaft. Ich hoffe, dass es Reformen geben wird.

Kritiker befürchten, dass durch die aufgeheizte Debatte um Ehrenmorde und Zwangsheirat andere wichtige Dinge aus dem Blick geraten: die schlechte soziale Situation und die mangelnde Bildung vieler Migranten.

Ich höre aus ihrer Frage die Unterstellung, die Migranten seien Opfer dieser Gesellschaft. Aber das ist zu einfach. Auch sie selbst reproduzieren ihre Lage, indem sie zum Beispiel ihre Kinder arrangiert verheiraten und so aus dem Integrationsprozess dieser Gesellschaft herausreißen. Was gibt es Wichtigeres als das Recht auf selbstbestimmtes Leben und Freiheit? Außerdem ist meine eigene Geschichte ein Beispiel dafür, wie wichtig Bildung ist, um hier anzukommen.

Ihr Buch ist erst seit wenigen Wochen auf dem Markt und hat es bereits in die Bestsellerlisten geschafft. Wie erklären Sie sich das? Schließlich arbeiten Sie und andere engagierte Frauen seit langen an dem Thema.

Es liegt daran, dass es ein ehrliches Buch ist. Aber auch die Realitäten sind nicht mehr wegzudiskutieren. Die Integration ist gescheitert. Man hat sie dem Zufall überlassen und jetzt werden wir mit den Ergebnissen konfrontiert. Und zum Glück gibt es in Deutschland eine kritische Öffentlichkeit, die dies registriert.

Ihr Buch passt in den derzeitigen Zeitgeist. Es könnte denen in die Hände spielen, die sagen: Vergesst Multikulti. Oder: Der Islam ist per se rückständig. Das hört man häufig seit dem Mord an dem niederländischen Regisseur van Gogh.

Das wurde bereits vor meinem Buch gesagt. Darum geht es mir nicht. Ich bin froh, dass endlich über die Probleme gesprochen wird. Ich will die Integration. Und ich will die aufrütteln, die das auch wollen. Die bisher nicht hingeguckt und vieles mit der Kultur der Migranten blind gerechtfertigt haben. Dazu gehören Grüne, Linke, Liberale. Sie müssen umdenken.

Kritisieren Sie deshalb die Grünen so polemisch? Nach dem Motto: Ihr habt ja gar nichts begriffen, ihr Multikultiträumer.

Viele haben einfach nicht gesehen, dass ein Teil der Migranten die bürgerlichen Freiheiten für ihre mittelalterlichen Traditionen missbraucht. Das kann man doch nicht zulassen. Dieses Land muss seine Werte verteidigen!

Und die türkische Community? Was fordern Sie von ihr?

Ich glaube, dass die Hälfte der türkischen Migranten Demokraten sind, die in und mit der deutschen Gesellschaft leben wollen und hier ihren Weg gehen. Sie müssen die Auseinandersetzung mit denen führen, die in der Parallelgesellschaft leben. Diese Auseinandersetzung beginnt gerade, das sehe ich an vielen Reaktionen auf mein Buch. Sie ist der einzige Weg.