Armut der Sozialdemokratie
Wer kein Geld hat, hat in der Gesellschaft kaum Chancen. Der Ausgrenzungsbegriff von New Labour ist verkürzt und spielt Armut gegen andere Formen der Benachteiligung aus
Wenn eine Managerkaste das Hundertfache eines Arbeiters verdient, steigt die Zahl der relativ Armen
In seiner Polemik „Die armen Reichen“ (taz vom 11. 3.) zieht Michael Miebach gegen den relativen Armutsbegriff zu Felde. Der Autor ist Redakteur der Berliner Republik, Zentralorgan der „neuen“ Sozialdemokratie. Seine Argumentation ist ein typisches Erzeugnis der Londoner New-Labour-Kaderschmiede London School of Economics (LSE). Der stand bis vor kurzem der Chefideologe des „Dritten Weges“ Anthony Giddens und Berater Tony Blairs vor.
Der auch im Armutsbericht der Bundesregierung verwendete Armutsmaßstab sei willkürlich und verkenne, dass „Lebensglück nicht unbedingt mit materiellen Ressourcen zusammenhängt“, so Miebach. Menschen in Deutschland, die unterhalb der Armutsgrenze leben, litten „weniger an materieller Not“ als an „Armut im Geiste“ und fehlenden Chancen. Statt Armut als Ressourcenproblem zu behandeln, müsse sich die Politik darauf konzentrieren, die Teilhabechancen ausgegrenzter Bevölkerungsgruppen zu verbessern.
So richtig es ist, dass nicht nur Armut, sondern auch soziale Ausgrenzung zu einem der zentralen gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart avanciert ist, so falsch ist es dennoch, ein relatives Verständnis von Armut aufzugeben und materielle Armut gegen andere Formen der Benachteiligung auszuspielen.
Im Gegensatz zu einem Begriff absoluter Armut, der auf Subsistenz verweist, also das, was zum Leben unbedingt notwendig ist, basiert der international anerkannte Begriff relativer Armut auf der Vorstellung sozialer Ungleichheit.
„Relative Armut“ bedeutet Armsein im Verhältnis zum gesellschaftlichen Reichtum. Wer „relativ“ arm ist, hat deutlich weniger als die meisten anderen. Gemessen wird die relative Armut einer Gesellschaft durch die Bestimmung des Bevölkerungsanteils, der über ein Einkommen von weniger als 40 Prozent (strenge Armut), 50 Prozent (Armut) oder 60 Prozent (Armutsrisiko) des Einkommensmittels verfügt. Armut in diesem Sinne reflektiert die Tatsache, dass wir uns im Rahmen der gesellschaftlichen Maßstäbe vergleichen und daraus unsere Selbstwertschätzung ziehen.
Relative Armut steigt und fällt, sobald die Einkommensungleichheit zu- oder abnimmt. Wenn eine kleine Managerkaste nicht mehr nur das Zig-, sondern das Hundertfache eines Arbeiters verdient, steigt mit dem Durchschnittseinkommen nicht nur die Armutsgrenze, sondern auch die Zahl derer, die arm sind. Den Grad sozialer Ungleichheit zu messen, ist das zentrale Anliegen und die kritische Funktion des Begriffs „relative Armut“. Daraus zu folgern, dass relative Armut nicht abzuschaffen sei, ist ein logischer Fehlschluss mit dem Effekt, soziale Ungleichheit generell und insbesondere gegenwärtige Ungleichheitsrelationen als naturgegeben und nicht veränderbar darzustellen.
Tatsächlich gibt es ein einfaches Mittel gegen relative Armut: Umverteilung des Reichtums von oben nach unten, bis das Einkommen der Armen oberhalb der Armutsgrenze liegt. Denn sowohl das mittlere Einkommen als auch die Armutsgrenze bleiben von Umverteilungsmaßnahmen unberührt. Voraussetzung wäre allerdings der politische Wille eines Robin Hood, der den Armen gibt, was er den Reichen genommen hat.
Dass die sozialdemokratische Variante des Neoliberalismus das umgekehrte „Hood-Robin-Prinzip“ praktiziert, indem es die Krümel der Armen auf den Tisch der Reichen packt, ist auch Miebach nicht entgangen, gibt er doch freimütig zu, dass Hartz IV die Armutsrate erhöht. Dort, wo der relative Armutsbegriff tatsächlich zu kritisieren wäre, bleibt Miebach jedoch vage. Denn in der Tat erwecken die glatten Armutsschwellen (bei 40, 50 oder 60 Prozent) den Eindruck mathematischer Willkür; schließlich enthalten die relativen Maße keinen Hinweis darauf, ob die entsprechenden Geldbeträge ausreichen für ein Konsumniveau ohne Not und auf Höhe des gesellschaftlich verallgemeinerten Mindeststandards.
Während Miebach offenbar den sozialtheoretisch und -politisch anachronistischen Rückfall auf den absoluten Armutsbegriff nahe legt, wenn er etwa danach fragt, ob in Deutschland jemand Hunger leiden müsse, hat die Armutsforschung einen angemessenen Ausweg aus dem Dilemma zwischen absoluter und relativer Armut gefunden. Der Ansatz relativer Deprivation misst in Geldgrößen, welche Dinge in einer Gesellschaft als zum Leben unbedingt notwendig gelten. Arm ist dann, wer nicht in der Lage ist, das Mindestniveau des gesellschaftlich akzeptierten und geforderten Lebensstandards zu bezahlen. Hier wird Armut also sowohl absolut als Bedarf als auch in Relation zu den gesellschaftlichen Konsumgewohnheiten und Verteilungsverhältnissen bestimmt.
Es gibt ein einfaches Mittel gegen relative Armut: Die Umverteilung vonoben nach unten
Statt einen solchen Armutsbegriff zu wählen, will Miebach „relative Armut“ kurzerhand durch den angeblich „unverkrampfteren“ Begriff der sozialen Ausgrenzung ersetzen. Im Einklang mit der einschlägigen Literatur versteht er soziale Ausgrenzung als Mangel an gesellschaftlicher Partizipation in mehreren Dimensionen. Folglich muss eine ausgrenzungssensible Politik an verschiedenen Ursachen und Mechanismen ansetzen, nicht nur an der materiellen Not. Armut bleibt für die Dynamik der Ausgrenzungsspirale aber von zentraler Bedeutung. Sie führt auf Dauer dazu, dass jemand kaum am sozialen und kulturellen Leben teilhaben kann und seine familiären und freundschaftlichen Beziehungen unter einer Dauerbelastung stehen. Zugleich verursacht sie häufig politische Ohnmacht und kann außerdem zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen bis hin zum vorzeitigen Tod führen. Unter „ferner liefen“ erkennt auch Miebach Armut als eine Dimension sozialer Ausgrenzung an. Allerdings hat er gerade den Begriff relativer Armut über Bord geworfen und ist nicht mehr in der Lage, die Schwelle zu bestimmen, die die Grenzmetapher des Ausgrenzungsbegriffs erst sinnvoll macht. Stattdessen räsoniert er darüber, dass materielle Armut ohnehin nicht das Kernproblem der heutigen Unterschicht sei und spielt Armut gegen andere Formen der Marginalisierung und Benachteiligung aus.
Diese Tendenz scheint auch in der politischen Programmatik der rot-grünen Bundesregierung auf. Materielle Armut kann in Zusammenhang mit sozialer Ausgrenzung jedoch nicht als sekundär behandelt werden. Soziale Inklusion ist nicht ohne materielle Teilhabe auf einem armutsfesten Niveau zu denken. „Geld ist nicht alles, aber ohne Geld ist alles nichts“ (Georg Vobruba) – so lässt sich dieser Zusammenhang in aller Kürze auf den Punkt bringen. Und er gilt auch auf dem Arbeitsmarkt: Nicht jede Arbeit ist besser als keine, denn das (Arbeits-)Einkommen muss auch zum Auskommen reichen. Sonst produziert die auf Aktivierung gerichtete Inklusionspolitik der neuen Sozialdemokratie neue Ausgrenzung – diesmal in der Form von „Armut trotz Arbeit“.
Katrin Mohr
Erwin Riedmann