Opposition übernimmt das Kommando

Demonstranten bringen Osch, die wichtigste Stadt im Süden Kirgisiens, unter ihre Kontrolle und zwingen die Vertreter der Staatsmacht zur Flucht. Immerhin will Präsident Akajew die Wahlergebnisse überprüfen lassen und mit seinen Gegnern reden

AUS OSCH MARCUS BENSMANN

Auf dem Basar in Osch herrscht Panik. Aufgeregt eilen die Menschen durch die Straßen der Stadt. Die Händler beeilen sich, die Waren von den Auslagen zu holen, die Geschäftsleute verbarrikadieren in Windeseile die Läden. „Sie kommen“, ruft ein junger Besitzer eines Internetcafés, und verjagt die kirgisischen Schuljungen von den Ballerspielen an den Computern.

Mindestens 3.000 Demonstranten der Opposition, ausgerüstet mit Metallschildern, Holzknüppeln und Stangen, ziehen unter lautem Gejohle durch die Straßen der Metropole am Eingang des Ferghana-Beckens. „Akajew muss weg“, skandieren die aufgebrachten Kirgisen und fordern den sofortigen Rücktritt des Präsidenten. Alte, bärtige Männer in eng anliegenden Lederstiefeln mit hohen kirgisischen Filzhüten bekleidet marschieren zusammen mit zornigen jungen Männern vor den Sitz des Innenministeriums und der Polizei. Die meisten der Demonstraten stammen nicht aus Osch selbst, sondern aus den umliegenden Bergdörfern. „Die Dörfler erobern die Stadt“, raunt ein hoch gewachsener Usbeke und beeilt sich, seinen Mercedes aus der Schusslinie zu bringen.

Die Staatsmacht hat die wichtigste Provinzstadt im Süden Kirgistans verlassen. Ihre Repräsentanten sind Hals über Kopf geflohen. Einige hunderte Polizisten lassen ihre Helme und Schilde fallen und laufen davon. So bleibt es der tobenden Menge überlassen, die verlassenen Gebäude der kirgisischen Staatsmacht zu plündern. Steine fliegen durch die Fenster der Innenbehörde, wagemutige Männer klettern über die Fassaden und öffnen von innen das schwere Metalltor. Ein Kirgise treibt seinen Schimmel durch die Menschenmenge. Mit heiserer Stimme verkündet Doischon Tschotonow durch eine Flüstertüte den Sieg des Volkes und ruft zur Besonnenheit auf. „Die Gebäude gehören nun uns, nicht mehr Akajew“, schreit er durch das Megafon. Der hagere Politiker mit der weißen Filzkappe, einer der vielen Führer der Opposition, fordert die Menschen auf, zum Gouverneurssitz zu ziehen.

Am Fuße eines überdimensionalen Lenindenkmals vor dem Verwaltungsgebäude versammeln sich die Demonstranten und lauschen ihren Anführern. Unter ihnen sind die ehemaligen Außenministerin Rosa Utanbajewa, der Usbeke Anwar Artikow, der von der Opposition zum Volksgouverneur der Provinz Osch bestimmt worden war, und Omar Bek Dekebajew, die viele als möglichen Präsidentschaftskandidaten sehen. „Wir fordern den sofortigen Rücktritt Akajews, das Volk hat gesiegt“, ruft Utanbajewa. Unter der nach Norden weisenden Hand des russischen Revolutionärs beschließen die Oppositionsführer die Besetzung des Flughafens, der Fernsehstation und des Postamts.

Die stellvertretenden Polizeichefs der Provinz und der Stadt Osch erklären ihren Übertritt zur Opposition und legen vor den versammelten Demonstranten den feierlichen Eid ab, von nun an auf der Seite des Volkes zu stehen. Der neue Volksgouverneur Artikow versichert, dass schnellstmöglich für Ruhe und Ordnung gesorgt werde. Sollte Akajew nicht sofort zurücktreten, droht Utanbajewa, „marschieren wir nach Bischkek“.

In wenigen Stunden ist es der Opposition gelungen, mit einigen tausend Demonstranten die wichtigste Stadt im südlichen Kirgisien mit knapp 6.000 Einwohnern unter ihre Kontrolle zu bringen. Damit haben sie das wiederholt, was einen Tag zuvor in der viel kleineren Stadt Dschalal-Abad passiert ist. Gestern reagierte der angeschlagene Präsident Askar Akajew erstmals. Er kündigte eine teilweise Überprüfung der Wahlergebnisse an und erklärte sich zu einem Dialog mit der Opposition bereit.

Die hatte sich bei den Parlamentswahlen in dem zentralasiatischen Staat am 27. Februar und den Stichwahlen am 6. März über massive Fälschungen beklagt. In der vergangenen Woche hatten die Anhänger der Opposition aus Protest eher symbolisch einige Gouverneurssitze in Kirgisien besetzt.

Am Sonntagmorgen holte die Staatsmacht zum Gegenschlag aus und stürmte gleichzeitig um 5.30 Uhr die von der Opposition besetzten Gebäude in Osch und Dschalal-Abad. Artikow und Tschotonow wurden verhaftet, Utanbajewa konnte sich in Osch verstecken. Nach der Erstürmung blieb es in Osch zunächst ruhig. Dagegen erstürmten die Demonstranten im 70 Kilometer nördlich gelegenen Dschalal-Abad den Gouverneurssitz erneut und fackelten das dortige Polizeipräsidium ab, während im Innenhof eine Hundertschaft Bereitschaftspolizei stand. Weder Maschinengewehrsalven in die Luft noch Tränengasgranaten konnten die wütende Menge vom Sturm abhalten.

Nach Verhandlungen durften die zutiefst erschrockenen Polizisten unter dem Gejohle der Menschen abziehen. Gestern setzte sich der Proteststurm in Osch fort. Die kirgisische Regierung hat komplett die Kontrolle über ihre südliche Provinz verloren. Die kirgisischen Südprovinzen liegen am Rande des Ferghana-Beckens, in dem sich die Grenzllinien der zentralasiatischen Republiken Usbekistan, Kirgisien und Tadschikistan treffen. Die Ausläufer des Tienschan trennen das Tal von der kirgisischen Hauptstadt Bischkek im Norden, die nur über eine Passstraße zu erreichen ist. Das bevölkerungsreichste und fruchtbarste Tal in Zentralasien ist besiedelt von verschiedenen Ethnien, und schon einmal hatte Anfang der Neunzigerjahre ein kleiner Funke zu blutigen Unruhen geführt.

Die Oppositionsführer in Osch versichern, dass sie die Lage schnell unter Kontrolle bekämen, aber schon marodieren betrunkene Jugendliche durch die Straßen. Und die Bewohner fürchten die Nacht nach dem Umsturz.