: „Distanz ist eine Chance“
Am 13. April erscheint das neue taz-Journal zum 60. Jahrestag des Kriegsendes. Ein Gespräch mit den Herausgebern
taz: 1995 hieß es, 50 Jahre Kriegsende werden noch ausführlich gewürdigt, aber danach wird das Interesse nachlassen. Doch heute, zehn Jahre später, sind 60 Jahre Kriegsende medial mindestens ebenso präsent. Warum ist das Interesse nach wie vor so groß?
Stefan Reinecke: Das große Interesse hat vielleicht mit der Angst zu tun, dass es tatsächlich das letzte Mal sein könnte. Diese Angst aber ist unbegründet. Denn es gibt auch jenseits der Jahrestage eher ein wachsendes Interesse an Weltkrieg und NS-Zeit.
Warum?
Reinecke: Vergangenheit ist ja nichts Statisches, das ein für alle Mal geklärt ist. Im Vordergrund steht dieses Mal nicht mehr die Auseinandersetzung mit der Vätergeneration und der Schuld, die sie sich in der Nazizeit aufgeladen hat. Wichtig ist vielmehr das Verhältnis der Kriegskinder zu ihren eigenen Eltern. Ein Symbol dafür ist das Bild, das Kanzler Schröder am Grab seines Vaters in Rumänien zeigt.
Daniel Haufler: Das Thema hat sich verschoben. Vor 10 Jahren ging es um die Wehrmacht und ihre Beteiligung am Holocaust. Das wurde bis dahin bestritten. Diese Debatte hat einen Hype ausgelöst. Dieses Mal steht die Debatte um deutsche Opfer im Mittelpunkt. Also die Frage: Welchen Rang sollen Bombenkrieg und Vertreibung im kollektiven Gedächtnis haben?
Heißt das, dass die Diskussion nun abgeklärter geführt wird, weil man sich an der Tätergeneration abgearbeitet hat und nicht mehr so viel auf dem Spiel steht?
Reinecke: Die ödipale Revolte gegen die Eltern, die ein zentrales Moment der 68er-Bewegung war, ist weg. Das ist so. Das führt aber nicht zwingend zu einem Weniger an Affekten und Gefühlen. Das sieht man eben gerade an der Opferdebatte.
Haufler: Und die wird im Fernsehen ja oft im Übermaß gezeigt. Dabei geht es weniger um Vermittlung von Information, sondern vielmehr um deren Inszenierung. Das kommt an, wie der Erfolg der Guido-Knopp-Fabrik zeigt.
Also immer noch ein emotionales Verhältnis zur deutschen Geschichte?
Reinecke: Ja, einerseits. Auf der anderen Seite glaube ich, dass die Historisierung ein unaufhaltsamer Prozess ist. 60 Jahre nach dem Kriegsende liegen ja mittlerweile die Wiedervereinigung dazwischen, die Jahrtausendwende, der 11. September etc. Das schafft Distanz. Und diese Distanz ist eine Chance. Eine Chance für eine linke Historisierung des Nationalsozialismus.
Linke Historisierung?
Haufler: Das bedeutet nicht Vergessen, nicht Bagatellisierung. Linke Historisierung heißt, dass man die NS-Zeit als Vergangenheit anschaut – und nicht in dieses moralische Hyperventilieren verfällt. Die moralische Frage ist geklärt, was den Nationalsozialismus und die Schuldfrage betrifft. Die muss man nicht jeden Tag aufs Neue beantworten. Schon gar nicht mit dem Furor wie vor 30 Jahren.
Ein Beispiel?
Reinecke: Wenn die NPD im Sächsischen Landtag auftritt und die Bombardierung Dresdens „Bomben-Holocaust“ nennt, dann ist es unklug, voll moralischer Entrüstung mit den Armen zu rudern. Weil man so ihr Spiel betreibt. Ich glaube, mit Gelassenheit und Sachlichkeit bekämpft man die NPD eher als mit Entrüstungsgesten.
Haufler: Das heißt ja nicht, dass man bei der Betrachtung des Nationalsozialismus ohne moralische Kategorien auskommt. Gerade diese neue Emotionalität, die mit der Opferdebatte einhergeht, erfordert das. Und dem anderen Fokus, dem Wechsel vom kollektiven zum individuellen Erinnern, wohnt etwas Gefährliches, ja Relativierendes inne. Im privaten Erinnern gilt ja oftmals immer noch der Slogan: „Opa war doch kein Nazi!“
Warum braucht man zu alldem ein taz-Journal?
Haufler: Das ist natürlich eine Alternative zur Guido-Knoppisierung der Zeitgeschichte, zu dem Konzept „Zeitzeugen plus Emotionalisierung“. Im taz-Journal geht es um das Problemfeld zwischen Erinnern und Geschichte, zwischen gesellschaftlichem Gedächtnis und individuellem Erinnern. Es geht um die Motive, die heute noch im Spiel sind und dieses Thema vorantreiben.
Reinecke: Zudem gehen wir weg von diesem eurozentristischen Blick auf Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg. Der US-Historiker Gabriel Kolko sagt in einem Interview im taz-Journal sinngemäß: Das Ergebnis des Ersten Weltkrieges waren Lenin und die Sowjetunion, das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges Mao und China. Die radikalen Veränderungen in Asien waren ebenso wichtig wie die Niederlage des Hitler-Faschismus. Der 8. Mai 1945 war nicht nur das Kriegsende, sondern auch der Beginn der globalen Entkolonialisierung, von Algerien bis Manila. Diese Dimension beleuchten wir ausführlich in dem taz-Journal – andere Blätter machen das eher routiniert.