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Archiv-Artikel

Der Körper im Lot

Das Sitzen, Stehen und Gehen lernt der Mensch in seinen ersten zwei Lebensjahren. Dann lernt er das Falschsitzen, Falschstehen und Falschgehen. Rolfing kann helfen, sich weniger belastend zu bewegen

VON EDITH WINNER

„Rolfing – ist das nicht diese Hardcore-Massage, bei der man mit Ellbogen bearbeitet wird?“ Eine Spontanumfrage im Bekanntenkreis ergibt: außer dem einen vagen Vorurteil keinerlei Kenntnisse über Rolfing. Dabei könnten es die meisten der Befragten brauchen – bei der Frage nach Rückenproblemen oder Verspannungen im Nacken kommt ein einhelliges „Oh ja, kenne ich!“.

Rückenschmerzen sind die Volkskrankheit Nummer eins. Eine Langzeituntersuchung des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen wartet regelmäßig mit alarmierenden Zahlen auf: In den vergangenen sechs Jahren nahmen Rückenbeschwerden um über ein Viertel zu, bei den 14- bis 29-Jährigen sogar um mehr als zwei Drittel.

Viele Krankenkassen versuchen ihre Mitglieder durch Bonusprogramme oder Zuschüsse zu aktiver Vorsorge zu motivieren. Die Bandbreite der geförderten Aktivitäten reicht von der Mitgliedschaft im Sportverein oder Fitnessstudio bis zu Yogastunden und Tai-Chi-Kursen. Exotischere Varianten wie das Rolfing gelten den Krankenkassen dagegen als nicht zuschussfähiges Privatvergnügen. Die Kosten von 75 bis 90 Euro pro Sitzung muss ein Patient aus eigener Tasche zahlen.

Rolfing, nach seiner Begründerin Ida Rolf benannt, ist eine Therapie zur Prävention, aber auch zur Behandlung vieler Erkrankungen des Bewegungsapparats. Mitte der 1980er-Jahre aus den USA nach Deutschland importiert, ist die Methode ein Geheimtipp geblieben – heute gibt es deutschlandweit etwa 200, in Berlin ein knappes Dutzend Rolfing-Praxen.

Ziel des Rolfings ist die Aufrichtung des Körpers. Das ist ganz wörtlich gemeint. Während ein Orthopäde sein Augenmerk auf den Körperteil richtet, der Ärger macht, interessiert den Rolfer die Statik des ganzen Körpers. Gleich einem Ingenieur begutachtet er, wie bei seinem Klienten die Gewichte verteilt sind, wo die Schwerkraft auf Knochen, Muskeln und Sehnen wirkt, welche Körperstellen besonders beansprucht werden. Denn unnatürliche Belastungen sind die Hauptursache für orthopädische Beschwerden: Wir sitzen falsch, spannen bei Stress den Nacken an, klemmen beim Telefonieren den Hörer zwischen Hals und Schulter – die Liste der Haltungssünden ist lang.

Die Lösung, die Rolfing anbietet, ist ein Lernprozess: Der Rolfer bringt dem Patienten bei, wie er Belastungen sinnvoll auf den ganzen Körper verteilen kann, indem er seine täglichen Bewegungsabläufe ändert. Das ist leichter gesagt als getan. Denn Gehen, Sitzen und Stehen laufen größtenteils unbewusst ab – da reichen gute Worte nicht. Rolfing ist, vereinfacht ausgedrückt, eine Methode, mit der sich unbewusste Körperroutinen überlisten lassen.

Wie funktioniert das praktisch? Der Patient liegt, wie bei der Massage, auf einer Liege. Der Rolfer nimmt beispielsweise das Bein des Klienten, winkelt es ab und bewegt es von der Hüfte aus im Kreis, ganz langsam und geschmeidig. So führt er dem Patienten am eigenen Leib vor, wie diese Bewegung in ihrer idealen Form aussehen würde. Oder er löst durch Druck auf eine bestimmte Stelle am linken Fuß beim Patienten die Empfindung aus, von seiner linken Schulter aus sei ein Seil durch Brustkorb, Hüfte, Knie hindurch bis zu seinem Fuß hinuntergespannt.

Durch solche Aha-Erlebnisse lernt der Klient im Verlauf von zehn systematisch aufeinander aufbauenden Rolfing-Sitzungen einen gelösteren und weniger verschleißenden Umgang mit seinem Körper.

Viola Dotzauer, Rolferin mit Praxis in Berlin-Wilmersdorf, macht von ihren Klienten vor und nach der Behandlungsserie Polaroidfotos: „Der Vorher-nachher-Effekt ist für viele eine Offenbarung.“

Doch die Rolfing-Methode greift noch weiter. Sie reicht bis in die unwillkürlichen Bewegungen hinein, die sich ununterbrochen im Innern unseres Körpers abspielen. Das Geheimnis: Rolfing arbeitet an einem Organ, das für die gesamte Formgebung unseres Körpers zuständig ist, nicht nur im großen Ganzen, sondern auch in allen seinen Teilen – mit der so genannten Faszien-Membran. „Das ist ein dreidimensionales, elastisches Netz aus Bindegewebe, in das jeder Muskel, jedes Organ, jeder Knochen, jede Nervenbahn eingehüllt ist“, erklärt Hubert Ritter, in Berlin praktizierender Rolfer. „Durch gezielten Druck an bestimmten Stellen kann man dieses Gewebe dehnen oder verformen und dadurch Verspannungen ‚schmelzen‘, wie wir es nennen.“

Diesem „gezielten Druck“ verdankt sich vermutlich der Ruf des Rolfings, eine gelegentlich schmerzhafte Angelegenheit zu sein. Dass in der Rolfing-Behandlung auch die Ellbogen zum Einsatz kommen, bestätigt Dotzauer. „Aber das Talent eines Rolfers besteht genau darin, an der Grenze zum Schmerz zu arbeiten, ohne sie zu übertreten.“

Detaillierte Informationen zu Rolfing und eine bundesweite Therapeutensuche finden Interessierte unter www.rolfing.org. Adressen von Rolfern in Berlin: www.berlinrolfing.de