: Therapiefreie Zone Strafvollzug
Per Dienstanweisung hebelt die Justizbehörde gesetzliche Möglichkeit zur Haftminderung für Beschaffungstäter aus
von Kai von Appen
Hamburgs Justizsenator Roger Kusch (CDU) unter Druck: Immer mehr Justizangehörige aller Schattierungen – Richter, Staatsanwälte und Mitarbeiter des Strafvollzugs – werfen ihm vor, durch seine Hardliner-Politik des Wegsperrens die Resozialisierung von Strafgefangenen zu behindern – und damit einen effektiven Strafvollzug.
Besonders zu spüren bekommen das seit Beginn dieses Jahres drogenabhängige Strafgefangene: Per Dienstanweisung wurde der gesetzliche Ansatz „Therapie statt Strafe“ von der Hamburger Justizbehörde ausgehebelt. „Jegliche Therapiemöglichkeiten“, so Strafvollzugs-Insider Klaus Stein* zur taz hamburg, seien damit „totgemacht worden“.
Auf sechs eng bedruckten Seiten beschränkt eine unter StrafverteidigerInnen erst jetzt bekannt gewordene Bewertungsrichtlinie des Leitenden Oberstaatsanwaltes Martin Köhnke, gerichtet an „alle Dezernenten und Rechtspflegerinnen“, sämtliche Vollzugsverschonungen. Die Existenz des Papiers wird von der Sprecherin der Staatsanwaltschaft, Marion Zippel, bestätigt, ohne zurzeit etwas über die „Umsetzung“ ausführen zu können; es geht darin um „die Voraussetzungen für die Gewährung einer Zurückstellung nach § 35 BtMG“ und darum, „zur Ausformung dieser Handlungs- und Ermessensspielräume sowie zur Konkretisierung (...) einige Grundsätze“ aufzuzeigen. Formuliert werden darin strenge und weit interpretierbare Kriterien.
Der erwähnte § 35 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) sieht vor, dass Straftäter, die aufgrund ihrer Drogenabhängigkeit mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind und eine Freiheitsstrafe von weniger als zwei Jahren zu verbüßen haben, einen Teil ihrer Haft zur Therapie nutzen können. Zeigt sich ein drogenabhängiger Beschaffungstäter Willens, seiner Sucht abzuschwören, bekommt er die Dauer einer ambulanten oder stationären Therapie auf seine Freiheitsstrafe angerechnet.
Nun wüssten alle Experten, sagt der Vorsitzende der Hamburger Strafverteidigervereinigung, Wolf-Dieter Reinhard, dass oftmals „zur Therapie auch der Abbruch gehört“. So könne es vorkommen, dass ein Verurteilter mit der ersten Therapieeinrichtung nicht klarkommt und sich Ersatz suchen muss. Das bedeute ein Restrisiko für Rückfälle.
Dieses Risiko abzuschätzen, damit waren bislang drei Spezialisten der Staatsanwaltschaft befasst. Diese sind nun vom Justizsenator durch 46 Rechtspflegerinnen ersetzt worden. Und diesen wiederum bleibt mit der Köhnke‘schen Anweisung im Nacken kaum noch Handlungsspielraum, so ist zu befürchten.
Diese Erfahrung musste Strafverteidiger Reinhard vor einigen Wochen in einem eigenen Fall machen. Ihm war die Rückstellung nach §35 BtMG für einen Mandanten zugesichert worden. Als dieser die Therapie abbrach, sei es seitens des Rechtspflegers „gleich zur Sache“ gegangen. Obwohl der betroffene Mandant einen neuen Therapieplatz vorweisen konnte, habe der Haftbefehl gedroht.
„Das bedeutet“, sagt Reinhard, „dass nicht mehr der individuelle Fall geprüft, wie es das Gesetz vorsieht, sondern nach einem Muster verfahren wird.“ Der Strafverteidiger weist darauf hin, dass Maßnahmen wie diese von den Gerichten zu überprüfen seien. Und auf die neue, Köhnke gemäße Vorgehensweise, mutmaßt Reinhard ein wenig süffisant, „wird mancher Richter sehr empfindlich reagieren“.
*(Name geändert)