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Archiv-Artikel

Der wilde, wilde Westen

Camera Work zeigt Indianer wie aus dem Bilderbuch: Sie entstammen der zwanzigbändigen Enzyklopädie „The North American Indian“, dem Lebenswerk des Fotografen Edward Sheriff Curtis

VON ANNETTE JAHN

„Der auf seinem Atem schläft“ nannten ihn die Hopi, nachdem sie Edward Sheriff Curtis dabei beobachtet hatten, wie er seine Luftmatratze aufblies. Spannend wäre sicherlich zu erfahren, wie die mehr als 80 anderen Indianerstämme Nordamerikas dieses neugierige, aber mutige Bleichgesicht nannten, das so großes Interesse an ihren langsam in Vergessenheit geratenen Riten und Traditionen hatte – und das anfangs noch für so manche Pose mit Barem zahlte.

„Der unser Bild von Indianern geprägt hat“ müssten wir ihn heute nennen. Denn die Bilder, die wir als die „typischen“ Indianerbilder kennen, stammen von ihm, von Edward Sheriff Curtis. Die Galerie Camera Work stellt auf zwei Ebenen eine stattliche Anzahl von ihnen aus: Indianer, wie wir sie uns vorstellen – oder uns wünschen, dass sie ausgesehen haben mögen. Mit wettergegerbten Gesichtern, stolzem, unerschütterlichem Blick, federgeschmückt oder einsam vor glorreicher Landschaftskulisse reitend – schon zur Zeit der Aufnahmen Anfang des 20. Jahrhunderts war dies ein Bild der Vergangenheit. Denn schon in Curtis' Geburtsjahr 1868 unterzeichnete Häuptling Red Cloud in Fort Laramie den „Friedensvertrag“, der zwar den Siouxkriegen ein Ende setzte, aber auch den Autonomiestatus der einzelnen Stämme endgültig aufhob und die Vertreibung der Indianer in Reservate besiegelte.

Eindrucksvoll sind die Fotografien im Portfolioformat jedoch allemal. Allein die Motive, diese unglaublichen Gesichter und stillen Szenen, sind schlicht und ergreifend schön. Die Porträts sind im damals üblichen Stil des Piktoralismus gehalten, kunstvoll in Szene gesetzt und gekonnt ausgeleuchtet. Curtis war nicht nur bekannter Gesellschaftsfotograf in Seattle, sondern auch ein Technikfreak. So finden sich auch hier verschiedene Trägermaterialien: Im Erdgeschoss die gut zu vervielfältigenden und qualitativ erstaunlich hochwertigen Fotogravüren, die mit fotografischem Tiefdruckverfahren hergestellt wurden. Im Obergeschoss aber lernt man das Staunen. Hier werden die von Curtis selbst „Curt-tònes“ genannten Goldtone-Prints gezeigt, die durch die Belichtung einer mit Goldstaub beschichteten Glasplatte entstehen. In ungeahnter Klarheit, Plastizität und Schärfe präsentieren sich Gesichter und Landschaften – und man bekommt fast das Gefühl, selbst dort zu sein, im weiten wilden Westen, meint Grashalme im Wind sich bewegen zu sehen und Wolken wandern.

Schon zu ihrer Entstehungszeit wurden die romantisch verklärten Fotografien mit Preisen ausgezeichnet – doch vollends packen die Fotografien, wenn man um die Umstände ihrer Entstehung weiß. Curtis hatte es sich zum Ziel gesetzt, das Leben aller Indianerstämme Nordamerikas zu dokumentieren, das Leben, das schon längst nicht mehr so gelebt wurde. Er wollte die Traditionen der indigenen Völker, die dem Untergang geweiht waren, schrift- und bildlich festhalten, bevor es zu spät war.

Nachdem er 1899 als offizieller Fotograf der Harriman-Alaska-Expedition Wissenschaftler kennen gelernt hatte und in einer Art Crashkurs in ihre Arbeitsmethoden eingewiesen worden war, startete er sein Projekt: In über 30 Jahren besuchte er über 80 Stämme, wohnte bei ihnen, befragte sie mit Dolmetscher und stenografierendem Mitarbeiter – und dokumentierte mit seiner Kamera Trachten, Tänze, (frühere) Lebensgewohnheiten und traditionelle Posen.

Von Theodore Roosevelt zwar politisch unterstützt, erfuhr Curtis jedoch von öffentlicher Stelle keinerlei Förderung und stand immer knapp vor dem finanziellen Ruin. Insgesamt 2.200 Fotogravüren erschienen letztendlich in der zwanzigbändigen Enzyklopädie „The North American Indian“, die in einer nummerierten Auflage von 500 Stück erscheinen sollte, von der aber auf jeden Fall 272 Sätze zum Subskriptionspreis von 3.000 Dollar vertrieben wurden. Die 20 Bände waren in sich abgeschlossene ethnologische Werke, die inhaltlich den gesamten nordamerikanischen Kontinent nördlich von Mexiko und westlich des Mississippi abdecken – ausgestattet mit je etwa 75 Tafeln sowie Karten und Grafiken. Beigefügt war eine Bildmappe im Portfolioformat mit je 36 Gravüren von 30 x 40 cm – diese gab es auch als Sonderdrucke separat im Handel.

„Der nicht ernst zu nehmen ist“, hieß er bei den Wissenschaftlern seiner Zeit. Noch heute ist sein Werk umstritten. Den einen ist Curtis in seiner Ästhetik zu künstlerisch, andere vermissen bei ihm wissenschaftliche Objektivität. 1952 starb er 84-jährig in Whittier, Kalifornien. Die New York Times widmete ihm einen Nachruf von gerade einmal 76 Wörtern.

Bis 7. Mai: „Edward Sheriff Curtis“, Galerie Camera Work, Kantstraße 149, Di.–Fr. 10–18 Uhr, Sa. 10–16 Uhr