Johannes Paul der Coolste

Junge Katholiken in Berlin am letzten Tag im Leben des Jugend- und Medienpapstes: „Als Mensch ist er ein Bombenkerl“

Vieles war schon „ein bisschen rückständig“. Aber er war „einer zum Anfassen“

AUS BERLIN JOHANNES GERNERT

Um 10 Uhr ruft Sebastian Bock, genannt „Böcksche“, die übrigen katholischen St.-Georgs-Pfadfinder am Fuß des trockengelegten Wasserfalls im Berliner Viktoriapark zusammen. Alle stellen sich im Kreis um zwei blaue, zum Quadrat gelegte Halstücher auf. Jeder nimmt einen Stein in die Hand, und Anke Nietsch, als stellvertretende Kuratorin fürs Geistliche zuständig, erzählt eine Geschichte. Als Lord Robert Baden-Powell of Gilwell, der Pfadfindergründer, spürte, dass sein Leben bald zu Ende gehen würde, habe er sich überlegt: „Wie schaffe ich es, meinen Pfadfindern etwas mit auf den Weg zu geben?“ Er habe an den Piratenhäuptling Peter Pan gedacht und dann vor allem geraten: „Seid allzeit bereit, glücklich zu leben – und glücklich zu sterben.“

Anke Nietsch liest das aus einem leicht vergilbten Buch vor. „In diesen Tagen“, sagt sie, „liegen einige Menschen im Sterben.“ Das Wichtigste erwähnt sie fast beiläufig: „Unter anderem liegt ja auch der Papst im Sterben.“ Deshalb beten sie gemeinsam im staubtrockenen Wasserbecken für Johannes Paul II., bevor sie im Park als gute Tat den Frühjahrsputz im Park beginnen.

Es ist eigentlich schon seltsam genug, dass ein paar junge Leute am Wochenende in aller Herrgottsfrühe ganz freiwillig einen Park aufräumen. Dass sie dabei auch noch für einen sterbenden Kirchenvater beten, lässt sich wohl nur damit erklären, dass sich Karol Wojtyła nicht nur zum Medienpapst, sondern auch zum Papst der Jugend gemacht hat. Nicht nur weil er der einzige war, den die Jugendlichen kannten. Er hat auch den Weltjugendtag gegründet, der in diesem Jahr in Köln stattfinden wird. Und noch im Februar hat er angekündigt, dass er dorthin kommen will. Da war er schon sehr krank, weshalb der Kölner Kardinal Meisner damals einen „Gebetssturm“ für den Heiligen Vater gefordert hat.

Es beginnt an diesem Samstag, dem 2. April, der letzte Tag im Leben von Johannes Paul II. Und auf jener Seite des Berliner Kreuzbergs, die ausgerechnet dem Biergarten „Golgatha“ genau gegenüber liegt, stehen papsttreue Pfadfinder in Staubwolken und kehren Laubhaufen zusammen.

Sebastian Bock ist der Gruppenleiter. Auf einen Besen gestützt, erzählt er, wie er seit einigen Tagen das Sterben des Heiligen Vaters verfolgt. Nach dem Aufstehen hat er sich übers Fernsehen vergewissert, dass im Vatikan die rechte Flügeltür geöffnet wurde. „Das heißt, dass er noch am Leben ist“, sagt Bock, 27 Jahre alt, Student der Sozialarbeit. Er sucht die telemediale Verbundenheit „in dem Moment, wo es zu Ende geht“. „Mit dem Herzen“ will er dabei sein, erklärt er, nicht mit Sensationslust.

Und wenn der Papst stirbt, werde er sofort „ein Gebet nach oben schicken, dass er oben gut aufgenommen wird. Dass das, was er getan hat, auch gewürdigt wird.“ Es klingt ein bisschen so, als würde Gott im Zeitalter der Liveübertragung Verzögerungen nur widerwillig akzeptieren, als wollte der Kreuzberger Pfadfinderchef da lieber nichts riskieren. Er ist das dem Papst schuldig. Sebastian Bock sagt: „Als Mensch ist er ein Bombenkerl.“

Die katholischen Pfadfinder der St.-Bonifazius-Gemeinde haben einen Trauerflor mitgebracht. Sollten sie vom Papsttod erfahren, werden sie den an ihrer weiß-roten Fahne anbringen. Anke Nietsch geht gleich nach Hause und meldet, wenn es etwas Neues gibt.

Als sie am Vorabend ausgegangen ist, haben sie sich die Papst-News aufs Handy in die Kneipe schicken lassen, so wie das auch mit Fußballergebnissen gemacht wird. Der Todeskampf des Papstes als Endspiel, mit ständig aktualisiertem Zwischenstand.

Im brandenburgischen Alt-Buchhorst, am Ufer des tiefblau sich in der Sonne kräuselnden Sees, ist die nachrichtliche Anbindung an Rom im Jugendhaus des Bistums Berlin nur bedingt gewährleistet. „Wir lesen hier täglich Zeitung“, sagt Markus Papenfuß, der Pastoralreferent. Irgendwo gibt es auch ein Radio. Die Anwesenden, alle so um die 18 Jahre alt, werden hier auf die Arbeit in katholischen Kindergruppen vorbereitet. Es ist Nachmittag, im Speisesaal gibt es Kaffee und Kuchen. In einigen Stunden werden weltweit die Todesglocken läuten. Es werde natürlich über den Papst gesprochen, sagt Papenfuß. Einer sagt: „Man hört sich halt die Reden an. Weil er das Oberhaupt auf Erden ist, respektiert man ihn halt.“ Er schaut in die Runde. „Oder?“

B. F., rötliche Stoppelhaare, graues Cap am Hosenbund, weiß es genauer. „Er war zum Anfassen da und hat nicht immer darauf bestanden, dass man vor ihm niederkniet.“ Als Johannes Paul II. vor fast zehn Jahren im Berliner Olympiastadion auftrat, war B. F. dabei. Seine Eltern haben ihn mitgenommen. Er war kaum acht Jahre alt. Später hat er den Papst noch einmal in Polen gesehen. Aber das bleibende Bild ist der tanzende Papst. „Wie er sich einfach so auf ’ne Bühne gestellt hat und getanzt hat, ohne Leibwächter.“ Er nickt anerkennend. „Davon gibt es auch Videos.“

Er bewundert den greisen Kirchenführer, weil der „kein alter Mann auf einem Stuhl ist, wie ein Zombie“. Eigentlich hat er selbst gar keinen Vergleich. Aber seine Großeltern haben ihm erzählt, dass Vorgängerpäpste eher unnahbar waren. B. F. stammt aus Polen. Man redet viel über Rom in seinem Umfeld. Er kennt Leute aus Polen, die sagen, wenn der neue Papst ein Schwarzer wird, geht die Welt unter.

„Wie er einfach so auf ’ner Bühne getanzt hat! Davon gibt es auch Videos“

Auch Sabrina Nest war 1996 im Olympiastadion. Mit ihrer Mutter. Die ist Spanierin. Da sei die Religiosität irgendwie auch national bedingt, sagt sie. Als sie erfuhr, wie ernst es um Johannes Paul den II. steht, war sie geschockt. „Ja, mein Gott, wir wussten alle, dass er stirbt.“ Aber so plötzlich? Mag sein, dass es gar nicht so sehr um den Pontifex geht. „Der Tod macht einem Angst“, sagt Friedericke Munzel, die mit ihrer rheinländischen Großmutter sämtliche Papstsegen im Fernsehen verfolgt hat. „Wenn jemand, den man ein Leben lang kennt, also kennt in Anführungszeichen, wenn der stirbt, das ist schon schlimm“, sagt Sabrina Nest. Und dann streiten sie eine Weile darüber, was davon zu halten ist, dass der Papst gegen Abtreibung und Verhütung war und gegen weibliche Messdiener. Vieles finden sie schon „ein bisschen rückständig“. Für die Wahl des nächsten Papsts jedenfalls hoffen sie das Beste. Es gebe über hundert Kardinäle. „Da müsste einer dabei sein, der cool ist.“ Wenn auch nicht ganz so cool wie Johannes Paul II. vielleicht.

Etliche Kirchtürme entfernt, in der Mitte Berlins, stützt sich Schwester Maria Salomé im Schatten der St.-Hedwigs-Kathedrale auf ihren Stock. Gleich ist Gottesdienst. Ein paar Touristen schlendern durch die Berliner Abendsonne. In Rom wird Papst Johannes Paul II. nur noch wenige Stunden auf den Tod warten.

Die letzte Botschaft, die man dem Heiligen Vater angeblich von den Lippen lesen konnte, sagt Schwester Maria Salomé, habe von der Jugend gehandelt. Er sei zu den Jugendlichen gekommen und jetzt kämen sie zu ihm. So etwa klang das in den Nachrichten.

Maria Salomé zählt mit ihren 82 Jahren längst nicht mehr zur katholischen Jugend. Sie hört nicht mehr so gut und deshalb hat sie im Gegensatz zu den jüngeren Nonnen, die im Gemeinschaftsraum gucken müssen, auch das Privileg eines eigenen Fernsehers im Zimmer. Sie hat in der Nacht immer wieder nachgesehen, wie es um den Papst steht. Schlafen konnte sie ja sowieso nicht.

Zweimal hat sie Johannes Paul II. getroffen. Beim ersten Mal hat er in Rom eine Gruppe Behinderter gegrüßt, jeden persönlich. Sie stand in der zweiten Reihe. „Und bei mir hörte das auf, weil ich ja nicht zu den Behinderten gehörte“, erinnert sie sich. Da war sie etwas enttäuscht. Dafür bekam sie dann beim zweiten Mal ein „wunderschönes Foto“ geschenkt, auf dem der Papst seine Hand auf ihre legt. „Man spürt in solchen Augenblicken, er ist für jeden voll da“, sagt Schwester Maria Salomé, „ganz persönlich voll da.“ Das würden auch die Jugendlichen merken. „Die Jugend spürt, was echt ist.“ Und auch wenn der Papst den Weltjugendtag in Köln nun nicht mehr erleben kann: „Ich bin überzeugt, dass er trotzdem dabei ist und aus der Ewigkeit mitwirkt.“ Schwester Maria Salomé lächelt dabei irgendwie außerweltlich. Noch wenige Stunden bis zur Todesnachricht.