: „Bloß keine Virtuosennummer“
Opfer, Täter, einsame Helden: Der Erfolg von Ulrich Matthes beruht auf seiner schauspielerischen Wandlungsfähigkeit – auch als zäher Kämpfer für die Liebe im Eheschlachtdrama „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ am Deutschen Theater. Ein Porträt
VON SIMONE KAEMPF
Kraft ist bei ihm Intensität. Auch Sonntagmorgens um 11 Uhr. Eine Zeit, in der die Räume des Deutschen Theaters noch die vorabendliche Vorstellung ausdünsten und sich erst träge wieder Leben einstellt. In ein paar Stunden muss Ulrich Matthes als George in „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ auf der Bühne stehen. Andere würden sich für den Abend schonen und einen Gang runterschalten, aber Matthes liest Thomas Bernhard in der Sonntagsmatinee, nicht schnell oder laut, aber mit einer Kanalisierung der Kräfte, die Zeit und Raum vergessen macht.
Ohne Umwege geht es tief hinein in das Innenleben des Texts. Das Schauspielgewerbe, aus Sprache und Papier Figuren aus Fleisch und Blut zu formen, erscheint bei Ulrich Matthes wie eine Nebentätigkeit. Hier geht es selbst in einer Lesung um größere Daseinszustände, um das Auskosten von Intensitäten und darum, aus dem flach Gehaltenen einer Matinee-Lesung ein großgezogenes Theaterereignis zu zaubern.
„Meine eigenen Ansprüche an mich sind enorm. Was ich mache, will ich 150-prozentig machen“, sagt er. Dieser Hang zum vollen Einsatz zeichnet ihn auf der Bühne, bei seinen Hörbuchaufnahmen und im Film aus, selbst wenn er dort oft nicht gerade die Rollen von Sympathieträgern zu übernehmen hat. Jahre vor seiner Besetzung als Goebbels in „Der Untergang“ von Oliver Hirschbiegel spielte er in Max Färberböcks „Aimée & Jaguar“ einen Gestapo-Mann. Die Rolle ist so klein, dass sie nicht mal im Abspann auftaucht, wenn der Film heute irgendwo im TV-Abendprogramm läuft. Nur vergisst man Matthes nach den wenigen Szenen nicht: ein Deutscher mit ungeheuer hagerem Gesicht, dessen bösem Blick allerdings auch etwas Melancholisches anhaftet.
Das Berliner Theaterpublikum hat mit Ulrich Matthes wieder eine Figur, der es zujubeln kann. Einen zähen Kämpfer in Sachen Liebe, aber keinen leichtfertigen Eheschlachtenführer. Eine Mischung aus Spieler, Intellektuellem und Respektperson, der in „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ die Zuschauer mitnimmt in einen Frontkampf, in dem an jeder Stelle von Streit, Trennung, Versöhnung immer wieder alles möglich wird. Und es ist kein Zufall, dass dies derzeit das erfolgreichste Berliner Stück ist, für das sich am Kartenerstverkaufstag Warteschlangen bis weit auf die Straße bilden.
Innerhalb eines halben Jahres hat sich Matthes einen Status erspielt, von dem die meisten Schauspieler nur träumen. Für seine Rolle als George wurde er mit dem Gertrud-Eysoldt-Ring, immer noch der wichtigste Schauspielerpreis, ausgezeichnet. Die Leute gehen ins Theater, um ihn zu sehen. Und die Familienbilder von Corinna Harfouch und Matthes als starres Ehepaar Goebbels in dem Film „Der Untergang“ werden auf der Bühne durch eine körperliche und geistige Beweglichkeit der Schauspieler vertrieben, die auch erfahrene Theatergänger baff macht. Gedanken in beider Köpfe werden in Sprache und wiederum in Körpersprache übersetzt, kreuzen sich oder laufen parallel. Wie eine Partitur, denkt man sogleich, wenn Matthes erzählt, dass er Texte gerne anhand ihrer musikalischen Struktur anpackt.
In „Der neunte Tag“ kontrastierte er mit denkbar reduzierten Mitteln. Den Zugriff auf die Rolle des Priesters Henri Kremer, der in seinem Urlaub aus KZ-Dachau die Kirche an die Nazis verraten soll, beschreibt er als Verweigerung. „Bloß nichts spielen, so stumm, bescheiden und privat wie möglich sein. Bloß keine Virtuosennummer des KZ-Häftlings.“ Mehr noch als in anderen Rollen sprach sein hageres Gesicht Bände für das, wofür es kaum Sprache gibt. Nicht spielen bedeutet bei ihm spielen, bis man das Spiel vergisst.
Dass diese Leistung zurzeit erkannt und anerkannt wird, ist für Matthes ein Glücksmoment, den er auskostet. Und dass bei „Virginia Woolf“ die beglückende Arbeit mit den Schauspielern und dem Regisseur Jürgen Gosch einhellig Begeisterung bei Kritik und Publikum auslöst, hat er in zwanzig Jahren am Theater so noch nicht erlebt. So überraschend lange ist er dabei. Angefangen hat er 1983 in Krefeld/Mönchengladbach, dann ging es steil bergauf mit Engagements am Bayerischen Staatsschauspiel und den Münchner Kammerspielen. Auszeichnungen und Preise folgten früh.
Jetzt erlebt man quasi den mittleren Matthes in der Phase der Suche nach Kontinuitäten. „Wenn man eine Rolle auf der Bühne gefunden hat, muss man sich Gedanken machen, wie man sie weiter reproduziert. Virginia Woolf werde ich in drei Jahren noch spielen. Irgendwann an einem Tag im Jahr 2007 muss das noch so gut sein wie zur Premiere.“ Solche grüblerischen Überlegungen sind wahrscheinlich schuld, dass sich der 45-Jährige so hartnäckig wie erfolglos gegen die Bezeichnung „intellektueller Schauspieler“ zu wehren versucht.
Auch fünf Jahre Schaubühne ab 1992 unter Andrea Breth stehen in seiner Biografie. Eine Zeit, von der er sich längst freigespielt hat. Andererseits wirkt sich seine lange Zugehörigkeit zum Theater in seinem Vorrat an Haltungen und Sätzen aus. „Die wichtigste Person am Theater ist der Schauspieler, nicht der Regisseur.“ Die Ansicht vertritt der 45-Jährige nicht qua Beruf, sondern felsenfest auch als Zuschauer. Entgegen allem Zeitgeist zelebriert er sein eigenes Angeregtsein vom Theater.
Wobei Matthes kein Schauspieler ist, der sich nur auf die Bühne stellen muss, um zu glänzen. Ende Januar fiel für die „Minna von Barnheim“ nicht viel Lob ab. Da konnte auch sein zum Verzweifeln tugendhafter Tellheim nicht das Ruder herumreißen, selbst wenn er in der Mimikry der Rollen nie unsichtbar wird. Erfolg ist für einen Schauspieler immer ein prekärer Status. „Weitermachen“, lautet dann die Devise, und mit gesunder Verbesserungswut und angeborenem Selbstbewusstsein jede neue Herausforderung annehmen. Und dort, wo sich hohe Kunst und Publikumsakzeptanz verbinden, ist er damit ein ziemlicher Glücksfall.