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Archiv-Artikel

Regelt Europa sich kaputt?

Wie viele Gesetze braucht die Europäische Union, und wer bestimmt sie? Drei Beispiele aus den Bereichen Industrie, Umwelt und Agrar

Bereich Soziales: Arbeitszeit

Die Idee: Die Richtlinie soll – so die EU-Kommission – Arbeitnehmer vor Ausbeutung ihrer Arbeitgeber schützen. Sie legt eine Höchstzahl von Arbeitsstunden und die Häufigkeit von Pausen fest. Das Ziel ist, dass Arbeitnehmer in allen EU-Staaten zu den gleichen Bedingungen arbeiten. Schon 1993 verabschiedeten die Mitgliedsstaaten eine erste Arbeitszeitrichtlinie. Diese wurde in den Jahren 2000 und 2003 verändert. Dabei wurde festgelegt, dass die Richtlinie innerhalb von sieben Jahren erneut geprüft werden soll, weil einige EU-Staaten sich nicht langfristig festlegen wollten.

Befürworter: Vor allem die europäischen Gewerkschaften drängen auf eine klare und einheitliche Regelung der Arbeitszeit in Europa. In ihren Augen muss garantiert werden, dass die Arbeitgeber nicht willkürlich über ihre Angestellten verfügen können. Sie fordern die uneingeschränkte Anwendung in allen Mitgliedsstaaten und wehren sich gegen mögliche Ausnahmeregelungen. Für die Länder mit hohen Sozialstandards, die auch in ihre nationalen Gesetzgebung eine Höchstzahl von Arbeitsstunden festgelegt haben, ist die Richtlinie kein Problem.

Gegner: Vor allem Großbritannien fordert ein so genanntes Opt-out, also die Möglichkeit, aus der europäischen Regelung auszuscheren. Zypern und Malta sind ebenfalls gegen die Arbeitszeitrichtlinie. Luxemburg will eine Ausnahmeregelung für die Gastronomie. Spanien und Deutschland möchten das Gesundheitswesen von der Regelung ausnehmen. Auch sind die Mitgliedsstaaten uneinig darüber, wie genau Arbeitszeit definiert werden soll. Soll zum Beispiel der Bereitschaftsdienst bei Ärzten mitzählen oder nicht?

Ergebnis: Nach dem Entwurf soll die EU-weit gültige Höchstarbeitszeit von derzeit 48 Stunden in der Woche flexibler als bisher gestaltet werden. Einzelarbeitsverträge sollen sogar noch längere Arbeitszeiten erlauben. Bereitschaft soll nach dem Kommissionsentwurf künftig nur dann als Arbeitszeit angesehen werden, wenn der Arbeitnehmer „nach Aufforderung des Arbeitgebers aktiv tätig wird“. Dagegen fordert der DGB, dass Bereitschaftsdienst grundsätzlich als Arbeitszeit anerkannt wird. Und auch vielen Europaabgeordneten quer durch alle Fraktionen geht die geplante Flexibilisierung zu weit. Im Zentrum der Kritik stehen vor allem die jetzt angebotenen Ausnahmeregelungen: Um den Mitgliedsstaaten entgegenzukommen, schlägt die Kommission nämlich vor, dass die Arbeitnehmer selbst entscheiden können, ob sie mit einem „Opt-out“ einverstanden sind. Die Gewerkschaft befürchtet, damit könne sich der Druck auf die Arbeitnehmer erhöhen, die letztendlich jeder Vereinbarung zustimmen, um nicht ihren Job zu verlieren. Angesichts dieser Kritik ist mit einem langen Vermittlungsverfahren zwischen Rat und Europaparlament zu rechnen.

Bereich Umwelt: Elektroschrott

Die Idee für eine Richtlinie zur Beseitigung von Elektroschrott kam von der EU-Kommission, wurde aber von den Mitgliedsstaaten unterstützt. Zum einen wuchs der Berg von Elektroschrott, und weder die Industrie noch die Regierungen wussten, wohin damit. Zum anderen sollten die gesundheitsschädlichen Stoffe in Elektrogeräten verringert werden.

Was machte die Kommission? Die Arbeiten an zwei Richtlinien zum Thema begannen 1994. Eingesetzt wurde eine Arbeitsgruppe aus Vertretern der Mitgliedsstaaten, der Industrie und Umweltschutzorganisationen. Diese Gruppe erarbeitete ein Diskussionspapier und führte 1999 eine Befragung von 611 Unternehmen in allen damaligen EU-Ländern durch. Ein Jahr später legte die Kommission ihren ersten Vorschlag vor.

Befürworter: Schon vor der EU-Richtlinie gab es in einigen Ländern (Niederlande, Schweden, Dänemark, Österreich, Belgien und Italien) nationale Gesetze, die die Entsorgung von Elektroschrott regelten. In Deutschland und Finnland waren solche Gesetze damals in Arbeit. Besonders diese Staaten wollten eine Harmonisierung auf europäischer Ebene erreichen. Denn: In den jeweiligen Ländern wurden auch Produkte aus den Mitgliedsstaaten verkauft, die noch keine solche Regelung hatten, was den Handel extrem komplizierte. Alle Mitgliedsstaaten wollten die Regelung, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Während einige konkrete Bestimmungen forderten, ging es anderen nur um einen Rechtsrahmen.

Gegner: Widerstand kam von der Industrie in allen Mitgliedsstaaten. Die war zwar einerseits an einer einheitlichen Regelung interessiert, um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, befürchtete andererseits aber zu hohe Umweltstandards und zu große Kosten. Nach Schätzungen der Kommission wird die Industrie jedes Jahr 500 bis 900 Millionen Euro für die Sammlung des Abfalls und 200 bis 300 Millionen Euro für das Recycling ausgeben müssen. Die Industrie stellte sich lange gegen das Prinzip der Herstellerverantwortung. Sie forderte, dass sich auch die Gemeinden und Händler an der Organisation und Finanzierung des System beteiligen.

Ergebnis: Jeder EU-Bürger ist nach der Richtlinie dazu verpflichtet, seine alten Elektrogeräte bei Sammelstellen zurückzugeben. Die Hersteller müssen dafür sorgen, dass entsprechende Rücknahmesysteme aufgebaut werden.

Die Verhandlungen über die Richtlinie dauerten drei Jahre, weil die Forderungen des Parlaments über die der Mitgliedsstaaten hinausgingen. Erst im Vermittlungsausschuss einigten sich Rat und Parlament Ende 2002 auf einen Kompromiss. Die Mitgliedsstaaten hatten dann bis August 2004 Zeit, die Vorgaben in nationales Recht umzusetzen. Bisher haben das 14 der 25 EU-Staaten getan. In Deutschland können Kunden erst ab März 2006 Jahres ihre alten Geräte kostenlos zurückgeben.

Bereich Agrar: Kalbfleisch

Die Idee entstand 2002 bei den Regierungen Frankreichs und Italiens. Damals traten neue EU-Richtlinien zur Etikettierung von Rindfleisch in Kraft.

Das Problem: Bisher gehen die Definitionen für Kalbfleisch in den EU-Staaten weit auseinander. In Frankreich und Italien sind die Vorgaben am strengsten. Ein Kalb darf dort höchstens sechs Monate alt sein, wenn es geschlachtet wird. In den Niederlanden gilt das Tier auch noch als Kalb, wenn es schon doppelt so alt ist. In Deutschland liegt die Grenze bei acht Monaten.

Die Reaktion der Kommission: Landwirtschaftskommissarin Mariann Fischer Boel nahm sich der Bitte aus Rom und Paris an. Der Markt für Kalbfleisch wurde analysiert und Ende 2004 eine Internetumfrage in Auftrag gegeben. Auf der Internetseite „Your Voice in Europe“ können Verbraucher Thema abgeben. In einem Fragebogen wird festgehalten, welche Farbe das Fleisch haben sollte, welche Rolle die Ernährung des Tiers für die Qualität spielt. Solche Bürgerumfragen sind eher die Ausnahme bei der Entwicklung von Richtlinien. Ein- bis zweimal im Jahr sei das der Fall, heißt es aus der Kommission.

Befürworter: In Frankreich und Italien unterstützen sowohl die Regierungen als auch Bauern- und Verbraucherverbände die Idee. Ziel ist es, gleiche Chancen für Kalbfleischproduzenten auf dem gemeinsamen Markt zu schaffen und den Verbrauchern in der ganzen EU den gleichen Fleischstandard zu bieten.

Gegner: Da es bisher keine Beratung im Rat über das Projekt gab, sind die Positionen der übrigen Länder noch relativ unklar. Fest steht aber, dass Länder wie die Niederlande, in denen die Standards für Kalbfleisch niedriger sind als in Italien oder Frankreich, die Harmonisierung eher ablehnen werden.

Ergebnis: Sobald die Internetumfrage ausgewertet ist, wird die Kommission mit der Erarbeitung eines Vorschlags beginnen. Das Ziel soll tatsächlich eine gemeinsame Definition von Kalbfleisch sein, heißt es aus der Generaldirektion Landwirtschaft. Das Projekt ähnelt den Harmonisierungsrichtlinien, die es etwa zur Krümmung der Banane oder zur Größe von Tomaten gibt. Typisch EU eben. Ob man’s wirklich braucht? Industriekommissar Günter Verheugen hat da so seine Zweifel. Er will zum Beispiel einen Vorschlag für eine Richtlinie, die die Größe von Kaffeeverpackungen regeln soll, zurückziehen: „Viel zu kompliziert und völlig überflüssig!“

RUTH REICHSTEIN